Last Call: Ab ins Rossini-Land!

LANDESTHEATER / IL VIAGGIO A REIMS

22/09/24 Wenn ich einen – zugegeben nicht unbescheidenen – Wunsch äußern darf: Das nächste Mal, wenn ich irgendwo auf der Welt endlos lange auf einen Anschlussflug warten muss, dann möge gemeinsam mit mir eine Rossini-Primadonna vom Zuschnitt der Contessa Folleville mit der Koloraturen-Geläufigkeit von Nicole Lubinger stranden: Es wäre gewonnene Zeit!

Von Reinhard Kriechbaum

Diese Dame ist eine aus jener buntscheckigen Gesellschaft, die Gioachino Rossini in seiner Oper Il viaggio a Reims festsitzen lässt. Im Rossini'schen Original in einer Absteige, wo die Kutschenpferde ausgegangen sind. Im Salzburger Landestheater, in der Inszenierung von Andrea Bernard, ist es ein Flughafen. Bei Rossini das Hotel „Zur goldenen Lilie“, hier eine Zu-billig-Fluglinie gleichen Namens. Alle Destinationen cancelled. Auch der Flug nach Reims, wo alle hin wollen, zur Krönung von Karl dem Zehnten.

Besagte Contessa Folleville muss sich mächtig alterieren, weil ihre Koffer mit dem Gewand vorerst futsch sind. Da tröstet auch kein Parfum aus dem Duty-Free-Angebot. Eine irrwitzig lange Szene für eine brillante Sängerin, der Rossini das Effektvollste an Koloraturen und Verzierungen in die Noten geschrieben hat. Il viaggio a Reims, eine der letzten Opern von Rossini, entstand in Frankreich eben aus Anlass der Königs-Krönung, ein Werk für die damals prominentesten Sängerinnen und Sänger. Lauter Hauptrollen, drei Sopran-Primadonnen, ein Alt, zwei Tenöre und vier tiefe Männerstimmen, alle versorgt mit fordernden Arien und dauerbeschäftigt auch in Ensembles. Rossini hat da nochmal tief in seine bestbewährte Belcanto-Trickliste gegriffen. Da ist alles wohlfeil und in Überfülle parat, was man an Rossini liebt.

Keine gute, aber eine bessere Reisegesellschaft. Die unerwartete Situation bedingt Langeweile, und so kommt es zu allerlei Turbulenzen. Angestrebte Techtelmechtel erfüllen sich nicht, lösen aber Eifersucht aus. Weil Rossini Herren und Damen aller europäischen Länder zusammenkommen lässt, gibt es auch ausreichend Lokalkolorit. All das bündelt Andrea Bernard nun im Landestheater rund um Check-in-Schalter und Gepäck-Förderband, in einem Dreh-Bühnenbild von Alberto Beltrame, das der wartenden Schar viel Auslauf im Stillstand lässt.

Wie sie alle im Original heißen, tut wenig zur Sache, denn der Regisseur hat jeder Figur mit ein paar Kunstgriffen neues Profil gegeben. Gut, dass eifersüchtelnde Widersacher ihre Pistolen nicht durch die Gepäckkontrolle gebracht haben, so bleibt es bei turbulenten Wortgefechten. Eine Versöhnungsszene ausgerechnet zwischen Herren- und Damen-WC ist ebenso zum Totlachen wie der ständig herumgeisternde deutsche Musensohn, der es im Lauf der drei Stunden zu einem beachtlichen Alkoholkonsum bringt. Und weil das ja alles im europäischen Kernland spielt: Da ist der Engländer Lord Sidney, offenbar in Sachen Brexit-Diplomatie ausgesandt. Seine große Liebes-Sehnsuchts- und Verzweiflungsarie richtet er nicht an eine der attraktiven Reisegefährtinnen, sondern an Europa in Form eines blauen Schneuztuchs mit Sternen. Das ist echte Tragik.

Schwindelig könnte einem werden vor diesem Wimmelbild, aus dem sich nach und nach doch so eigenbrötlerische wie liebenswert-verschrobene Charaktere herauskristallisieren. Mein Gott, warum macht sich der spanische Rucksacktourist ausgerechnet an jene geheimnisvolle Frau heran, die mit (wenn ich richtig gezählt habe) dreizehn Koffern unterwegs ist. Kann ja nichts werden aus dieser Schwärmerei!

Lustvoll und pointiert, mit überschäumendem Witz werden Geschichten über Geschichten erzählt. Die Spielfreude des Ensembles kennt ebensowenig Grenzen wie der Erfindungsreichtum der Regie. Ganz wesentlich: Das ist alles auf den Punkt hin getrimmt und entspricht dem Rädchenwerk der Musik-Maschinerie. Ein Timing, wie man es sich wünscht. An dem hat Carlo Benedetto Cimento, Erster Kapellmeister am Salzburger Landestheater, ganz entscheidenden Anteil. Da ist ein Italianitá-Kenner ersten Ranges am Pult, der weiß, was bei Rossini State of the art ist. Jede Ensemble-Schnurre bekommt das akkurate Zeitmaß, der Pulsschlag ist genau so, wie ihn die jeweilige Musikdramaturgie verlangt. In den Arien rasseln nicht nur die Koloraturen, der außerordentlich vielfältige vokale Zierrat bekommt Luft und Leichtigkeit. Nichts ist gehetzt an diesem Abend, jede Phrase findet ihren Raum. Da ist ein wirklich Stilkundiger lenkend tätig, wovon jeder im Ensemble profitiert. Das Mozarteumorchester trägt äußerste Präzision bei. Soloflöte bitte extra vor den Vorhang!

Il viaggio a Reims kann man natürlich nicht hauseigen besetzen, es sind immerhin fünfzehn Figuren auf der Bühne. Es wurde sorgsam gecastet, und diese mehrheitlich jungen Stimmen kommen bestens zusammen mit den vertrauten Leuten aus dem hiesigen Ensemble. Katie Coventry, Nicole Lubinger und Amber Norelay sind absolut gleichwertige Rossini-Stimmen, ungebremst beweglich, aber eine jede auch zu konzentriert-lyrischem Ausdruck fähig. Anita Giovanna Rosati hat besonders gute Möglichkeiten, denn sie muss sich ja nicht nur mit Pikanterie eines aufdringlichen Tenors erwehren (Hyunduk Kim), sondern hat auch zwei enorm wirkungsvolle Harfen-Arien. Deren zweite singt sie aus der linken Proszeniumsloge heraus und leitet damit das abschließende Huldigungs-Finale für König Karl X. ein, dessen Krönung sie ja alle verfehlen. Gut, dass sie sich selbst genügen – der mit verblüffenden Höhen für sich einnehmende Tenor Theodore Browne, die Bariton- und Bass-Buffos Daniele Macciantelli, Pasquale Greco, Yevheniy Kapitula, Michael Schober – man kann sie nicht alle aufzählen. George Humphreys ist der arme Tropf, dessen große Liebe Europa verloren scheint. Überzeugend auch der Chor (ein guter Einstand für dessen neuen Direktor Mario El Fakih).

Wenn das Warten gar zu lange dauert, ist am Flughafen im günstigen Fall mit freier Verköstigung zu rechnen – die wird hier zu jenem Fest, in dem Rossini die Nationalitäten und ihre Landeshymnen verulkt. Bei der englischen Hymne beginnt es sogar in der Flughafenhalle zu regen. An Gags fehlt es wahrlich nicht auf dieser Reise ins Nirgendwohin.

Aufführungen bis 22. November – www.salzburger-landestheater.at
Bilder: Salzburger Landestheater / Tobias Witzgall