Die kleine Familie im Mohrenland

REST DER WELT / GRAZ / DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL

22/04/16 Ein Bett, darin eine Sleeping Beauty, davor ein ratloser Tenor. Eine Siebenjährige, die manchmal danach verlangt, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen: Familienaufstellung der Regisseurin Eva-Maria Höckmayr für Mozarts „Entführung“ in der Grazer Oper.

Von Reinhard Kriechbaum

Klar doch: Die einfältige Türkenstory ist bei Mozart bloß Folie für weiter und tiefer reichende Liebes-Analysen, bei Konstanze ebenso wie beim Blondchen. Nicht von ungefähr beginnen, vor der angesagten Entführung der jungen Damen, deren Liebhaber ernsthaft die Treue der süßen Früchtchen zu hinterfragen.

Regisseurin Eva-Maria Höckmayr blendet die Originaldialoge aber zu gut drei Vierteln überhaupt aus und ersetzt sie durch Literarisches aus dem Fin-de-siècle - durch Teile aus Schnitzlers „Traumnovelle“ und Hofmannsthals „Der goldene Apfel“.

Eine putzige Kleinfamilie also, nach einer Ball- oder Partynacht zurückgeworfen auf sich selbst. Belmonte (Gatte Fridolin bei Schnitzler) zweifelt eigentlich nicht an der Treue der Partnerin, kann sich dafür ihres erotischen „Kopftheaters“ in Sachen Bassa Selim umso gewisser sein. Ihre Martern-Arie richtet Konstanze nicht an die Adresse des Bassa, sondern wirft sie Belmonte an den Kopf. Das ist eine wenigen wirklich spannenden Episoden, denn die Regisseurin hat den Bassa Selim zwar wortmäßig rausredigiert, aber als Balletttänzer wieder eingeführt.Und gerade zur Marten-Arie baut sie einen Pas de trois, in dessen Verlauf Konstanze und der Bassa einander verdächtig nahe kommen und Belmonte ziemlich blöd dasteht.

Eine Rezension reicht nicht annähernd, um die Ideen der Regisseurin – kleine Symbole, größere Metaphern und üppige Phantastereien mit sich öffnenden Bühnenbereichen und Quasi-Zoom-Effekten – auch nur ansatzweise zu beschreiben. Das Problem: Vermutlich sind nicht alle im Publikum passionierte Hobbypsychologen. Wer das Grundsensorium für epische Intellektualität nicht mitbringt, empfindet gravierende Längen und kommt zwangsläufig zum Schluss: Man kann es mit Mozarts Musik gut meinen, ganz genau auf ihre Tiefenschichten und Subtexte hören und es ihr doch maximal schwer machen: Türkensound im Schlafzimmer aus dem IKEA-Katalog?Auch die raffiniertesten Verschachtelungen von Bühnenebenen, wie sie Julia Rösler und Esther Dandani bereitstellen, sind nicht stimmungsfördernd.

Umso bemerkenswerter, dass die Musik dann doch zu einigem Leben kommt. Das liegt einmal an Mirko Roschkowski als Belmonte, einem deutschen Tenor mit gar wundersam leichter Höhe und mustergültiger Diktion. In Sophia Brommer hat er eine Konstanze als Gegenüber, die mit bemerkenswert dramatischem Impuls auftrumpft. Jede Koloratur ein Messerstich ins Gemüt Belmontes, was vielleicht nicht den Hörerwartungen an diese Rolle, aber gewiss dieser szenischen Lesart voll entspricht.

Warum der Bassa als Sprechrolle verschwindet, aber Osmin – der konsequenterweise genauso Traumbild bleiben müsste – sängerisch drauflospoltern darf, ist ein Grundproblem eines jeden interpretatorischen Neuansatzes. Eva Maria Höckmayr löst es, indem das „niedere Paar“ und Osmin eben eher fleischlich zur Sache gehen. „Den Schurken Pedrillo zu meiden“, rät Osmin der Blonden und setzt sie diesem im gleichen Atemzug auf den Schoß. Das hat schon fast Witz, der sonst diese Aufführung ganz und gar nicht auszeichnet.

Peter Kellner ist Osmin, Cathrin Lange Blonde und Taylan Reinhard Pedrillo, der seine „Im Mohrenland“-Romanze einfallsreich und parodistisch ausziert. Am Detail interessiert werkt Dirk Kaftan am Pult, hält fein Kontakt zur Bühne, auch wenn Sänger und Chor ob der unterschiedlichen Tiefen-Ebenen nicht immer optimal positioniert sind. Die der neuen Text- und Handlungsfassung geschuldeten Umstellung von Musiknummern lässt einen gelegentlich argwöhnen: Es brauchte, um Mozart so sehr zu korrigieren, von den Szenikern deutlich mehr Überzeugungskraft, als sie an diesem Abend geboten wird. Das sah das Premierenpublikum ähnlich: Vernehmliche Buhrufe für das Regieteam, dem andere nur wenig enthusiastischen Beifall entgegenhielten.

Aufführungen bis 19. Juni – www.oper-graz.com
Bilder: Grazer Oper / Werner Kmetitsch