Schmierenkomödianten des Bürgertums

WIEN / RAUB DER SABINERINNEN

18/04/23 „Die Leute liegen (vor Lachen) unter dem Stuhl. Ich auch.“ Das hat immerhin Alfred Kerr anlässlich der Berliner Erstaufführung zugegeben. Wir brauchen uns also nicht Fremdschämen, auch wenn es am Platz wäre, wenn heutzutage wieder irgendwo Der Raub der Sabinerinnen aufgeführt wird.

Von Reinhard Kriechbaum

Der Schwank der Brüder Franz und Paul von Schönthan aus dem Jahr 1883 ist seit hundert Jahren aus der Zeit gekippt und trotzdem scheinbar unverwüstlich. Jetzt wurde er im Akademietheater ordentlich aufgepeppt von Anita Vulesica und Svenja Viola Bungarten.

Der adrett in Bögen gelegte Vorhang ist das einzig Ordentliche, was der Theaterdirektor Emanuel Striese im Moment seinem Publikum anzubieten hat. Er und die anderen Protagonisten lugen am unteren Rand hervor. „Es ist aus!“ Allgemeine Blamage. Der Raub der Sabinerinnen, literarische Jugendsünde des Gymnasialprofessors Gollwitz, ist durchgefallen. Doch dann: Vorhang auf, Rückblende. Was war da los, wie ist es dazu gekommen, dass das Stück das sinistre Bühnenlicht hat erblicken dürfen, obwohl die Gattin des ins Theater vernarrten Herrn Professors so peinlich drauf bedacht ist, dass ihre Familie auch nicht ein klein wenig anstreift an den Brettern, die in ihren Augen bestenfalls die Halbwelt bedeuten?

Tief durchatmen, die nächsten eindreiviertel Stunden kommt man nicht dazu. Birgit Minichmayr ist in die Rolle des Theaterdirektors Striese geschlüpft, der daherkommt mit breitkrempigem Hut und aufgemaltem Schnurrbart. Schaut aus wie ein Westernheld, dem der Gaul durchgegangen ist. Aber Striese bleibt ja seine verschwörerische Überredungskunst, Minichmayr schlägt mit leicht rauchiger Stimme einen urkomischen Slang aus Wienerisch und Bayerisch an. Das klingt ein bisserl hinterfotzig-schleimig und kommt dann wieder mit überrumpelnder Direktheit. Mit dem Stück verbindet man ja diese Figur als Paraderolle schlechthin. Diesmal kommt's aber anders.

Wenn es darum geht, das Überdrehte noch weiter zu winden, sogar an einer ohnedies schon eng gedrehten humoristischen Doppelhelix zu zwirbeln, dann ist man bei Anita Vulesica, zweifacher Nestroy-Preisträgerin, an der richtigen Adresse.

Das Original täte es wohl nicht für sie. Anita Vulesica hat gemeinsam mit Svenja Viola Bungarten eine eigene Version hergestellt, und die verschlägt einem nicht nur wegen des Spieltempos den Atem. Dass Anita Vulesica die Hauptrollen genderfluid besetzt hat, rührt nicht von ideologischen Überlegungen her. Es hilft einfach beim Überdrehen. Sabine Haupt als Professor Gollwitz wirkt im viel zu groß geschnittenen, ur-altmodischen Anzug bemitleidenswert unbeholfen. So eine(r) muss es zu tun kriegen mit einer Ehefrau vom stattlichen Format eines Dietmar König (selbstbewusste Blondine) oder – noch mächtiger in der Erscheinung – der Weinhändlerin Karla (Rainer Galke)! Dafür begegnen Sabine Haupt und Birgit Michmayr, Theaterdirektor und Professor also, einander auf Augenhöhe. Schurke und Theater-Draufgänger im aufgeplusterten Kleinformat. Das ist einfach umwerfend komisch.

Die Wohnung des Professor Gollwitz, der sich anfangs denkbar unkommod über zwei Lexikon-Türme gelegt hat und Siesta hält, hat keine Tür, sondern zwei Schwingflügel, wie ein Saloon im Wilden Western. Da trudeln also die ungebetenen Gäste ein, in einer Frequenz, dass die Türflügel nur so flattern. Flugs ändern sich in dieser Stück-Variante die Gewichte. Aus Stichwortbringern werden eigenwillige Charaktere, und plötzlich ist nicht nur der Theaterdirektor der Spielmacher. Eine so bunte wie verquere Gesellschaft ist nach Kräften dabei, sich selbst ad absurdum zu führen. Wo die Regisseurin hinzielt: Alle machen ihr eigenes Theater und sind darin unschlagbar als Schmierenkomödianten des Bürgertums.

Hinreißend Dorothee Hartinger als Haushälterin Rosa wohl die eigentliche Frau in Haus und Herz des Professor Gollwitz. Stefanie Dvorak spielt gleich zwei Töchter des Professors, pubertär und besserwisserisch als Jugendliche. Als Ehefrau des Arztes Neumeier (Lukas Vogelsang) eine zickige Nervensäge sondergleichen.

Es geht permanent rund, das Wort Outrage greift viel zu kurz. Aber das hat System und ist mit bewundernswertem Timing umgesetzt, ohne irgendwelche Schwachpunkte. In dem Tohuwabohu der selbsternannten Selbstdarsteller verschwimmt also die Grenze zwischen Theater und bürgerlichem Leben, das seinem Supergau entgegensteuert.

Ach, vom Papagei haben wir noch nicht erzählt! Annemarie Fischer sitzt da im Federkleid, Kopf und Federputz in einer Voliere. Sie ist nicht nur Ziervogel, sondern Souffleuse, die den Agierenden Stichworte gibt. Eine ziemlich geniale Figur-Erfindung. Vielleicht unser aller Theater-Vogel?

Nächste Aufführungen am 20. und 22.4 im Akademietheater – www.burgtheater.at
Bilder: Burgtheater / Marcella Ruiz Cruz