Spannung im fünfzigsten Jahr

GRAZ / MUSIKPROTOKOLL / STEIRISCHER HERBST

10/10/17 Streichquartett unpluged im Kammermusiksaal. Ein eher ruhiger „Event“ im überschwänglichen Jubiläumsprogramm - und vielleicht grad deswegen einer der radikaleren: Das grandiose Quatuor Diotima debütierte mit gleich drei Konzerten beim musikprotokoll im fünfzigsten „steirischen Herbst“.

Von Heidemarie Klabacher

Enno Poppe und Quatuor Diotima sind der Salzburger zeitgenössischen Szene – nicht nur aber besonders „Dialoge“ sei Dank – gute Bekannte. Seinen Einstand beim musikprotokoll in Graz feierte das Quatuor Diotima mit drei „Happy Hours for String Quartet“ im Kammermusiksaal, in der Helmut List Halle und im Mausoleum.

„Das Streichquartett als Seismograph des Zeitgenössischen?“ Enno Poppes Streichquartett „Buch“ aus dem Jahr 2016 – eine „Suchbewegung und Verneigung Richtung Pierre Boulez‘ Livre pour Quatuor“ – ist in seiner Struktur wenn schon nicht päpstlicher als der Papst so doch beinahe klassischer als Haydn. Jedenfalls war die Österreichische Erstaufführung von Enno Poppes „Buch“ durch das Quatuor Diotima eine Sternstunde zeitgenössischer Kammermusik und ihrer Interpretation.

Vier „Sätze“ sind, wenn auch nicht ausgewiesen, so doch deutlich erkennbar. Erkennbar auch, besonders im energiegeladenen ersten „Satz“, klassische formale Prinzipien hinein bis in Haupt- und Seitenthema oder reprisenartige Wiederholung. Wenn der von kleinen Glissandi wie von Blitzen oder Pfeilen durchzuckte und von dramatischen Flageolett-Effekten überschimmerte dritte „Satz“ kein Scherzo ist – was dann?

Im vierten „Satz“ verströmt - über harmonisch nicht fassbaren regelmäßigen Strichen der drei Anderen - die Bratsche mit weichem warmem Ton eine große Melodie, die dann von der zweiten Geige in tiefer Lage aufgenommen wird… Franzl Schubert am Klavier, im Stukk des Kammermusiksaals über der Bühne wachend, schien für Augenbliche näher zu sein, als die paar Meter über dem Boden.

Was für ein faszinierend klassisches und zugleich ganz und gar modernes Werk. Welche Eigenständigkeit und welcher Farbenreichtum in der „Klangerfindung“ bei fast ausschließlich herkömmlicher Spielweise. Unisonoklänge gespielt in verschiedenen Lagen etwa im zweiten „Satz“, kommen daher wie vom Computer gezeugt und sind doch rein analogen Ursprungs… „Buch“, 2016 uraufgeführt bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik, ist dem Quatuor Diotima gewidmet. Yun-Peng Zhao, Constance Ronzatti, Franck Chevalier und Pierre Morlet spielten in Graz beim musikprotokoll in insgesamt drei „Happy Hours for String Quartet“ eine Uraufführung und vier österreichische Erstaufführungen von Enno Poppe, Petr Bakla, Rune Glerup, Mikel Urquiza und Alberto Posadas.

Weniger intim und konzentriert, aber nicht weniger spannend war das mupro-Debüt des Ensemble Phace unter der Leitung von Simeon Pironkoff mit Werken von Francesco Filidei, Christof Dienz, Hannes Kerschbaumer und Pierre Jodlowski. Zur Uraufführung kam das Konzertstück für Klarinette, Gesang, Ensemble und Elektronik „Der Fliegende“ von Christof Dienz. Dem Werk, geschrieben für den Klarinettisten Walter Seebacher, liegt der Prosatext „Der Fliegende Berg“ von Christoph Ransmayr zugrunde, der von einer Nahtod-Erfahrung in Schnee und Eis erzählt. Der Komponist macht das Flirren des eisigen Nichts mit flirrenden Klängen teils in höchsten Lagen, brillant eingesetzten Hall-Effekten greifbar. Das virtuose Perlen der Klarinettenklänge würde auch ohne den Hinweis auf den erzählerischen Kontext wie Eisglitzern auf den Zuhörer wirken. Eher langatmig gerieten Text-Rezitationen im Sprechgesang, der seiner Wirkung durch gewollte Unverständlichkeit durch elektronische Verfremdung, bewusst beraubt worden war. Das ist ziemlich schade, denn die klangsinnliche Musik von Christof Dienz hat die Intensität einer feinziselierten packenden Musiktheater-Miniatur.

Weitere Highlights im Jubiläumsprogramm „Fünfzig Jahre musikprotokoll“: Tanzmusik für Fortgeschrittene im Stefanieensaal mit Walzern, Polkas oder sonstigen Tänzen von Komponistinnen und Komponisten von Gerhard Winkler und Johanna Doderer über Johannes Maria Staud bis zu Johannes Kalitzke oder Gerald Resch. Unter dem Motto „Schöpferische Spannung“ spielen die Barockgeigerin Maya Homburger und der Kontrabassist Barry Guy Musik zwischen Heinrich Ignaz Franz Biber und György Kurtag.

Bilder: Steirischer Herbst / Jérémie Mazenq (1); Oliver Topf (1); Markus Sepperer (1)