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Beischlafes Bruder

REST DER WELT / LINZ / FRÜHLINGS ERWACHEN

27/09/17 „Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über dir.“ Das verspricht Moritz, der Selbstmörder. Als Wiedergänger will er seinen Schulfreund Melchior zum Suizid bewegen. Ein Lichtblick in einem sonst knochentrockenen Wort-Gestocher, das einen wie viele andere Szenen in Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ ziemlich mutlos machen könnte.

Von Reinhard Kriechbaum

Das Rezept also für Wedekinds „Kindertragödie“: Rotstift ansetzen, so rigoros wie nur möglich. Mit dem hat Evgeny Titov für seine Inszenierung im Linzer Landestheater nicht gespart. Er hat Szenen umgestellt und Rollen zusammen geführt, wo nur denkbar. Auf der Drehbühne fahren schmucklose, desillusionierend kahle Räume vorbei: ein Karussell des kalten Schweigens.

Überhitzt irrlichtern die Gedanken der Jungen wie Stichflammen. Wanda kann an den Storch nicht mehr glauben, prallt mit ihren Fragen ab an der Mutter, die als verspecktes Couch Potatoe TV-zappend im Fauteuil sitzt. In einer der stummen Szenen, mit denen der Regisseur Text-Leerstellen füllt, packt die unglückliche Frau einen überdimensionalen Penis aus und gleich unter Tränen wieder ein – sie wird das Paket wohl wieder zurückschicken. Nicht nur die aufklärungs- und lebenshungrigen Jugendlichen, auch die Altvorderen tragen schwer am Nicht-Reden-Können über Sexualität.

Überhaupt die Sprachlosigkeit: Evgeny Titov betont das, indem er über die Köpfe reden lässt: Nicht die Lehrerschaft ist im Konferenzzimmer versammelt, um über Melchior Gabor zu richten. Dieser Melchior hat die ahnungslose Wanda geschwängert und für seine Kommilitonen eine Aufklärungsschrift verfasst. Da sitzen nun regungslos Vater und Mutter Gabor, und der Direktor hält eine scheinheilige Schmährede auf den Jungen (eine Textkompilation, wie so manches an dem Abend). Melchior seinerseits sitzt schweigend und mit versteinerter Miene daneben, wenn Vater und Mutter über seine vermeintlich missglückte Erziehung in Streit geraten und darüber, ob die „Korrektionsanstalt“ der rechte Weg ist, um den jungen Mann wieder auf einen solchen zu bringen.

So anschaulich und gut gedacht das im Einzelnen ist: Der Theaterabend wirkt durchwachsen. Die Inszenierung trägt nicht darüber hinweg, dass „Frühlings Erwachen“ in den 1890er Jahren zwar die Erkenntnisse Sigmund Freuds provokant voraus genommen hat, aber heutzutage hoffnungslos aus der Zeit gekippt ist. Über-, nicht Unterinformiertheit wäre das brennende Thema. Da belässt es Evgeny Titov bei Anspielungen. Die notgeilen jungen Männer verstecken den „Playboy“ im Spülwasserbecken. Auch auf dem Schul-WC wird Hänschen Rilow seinen Desdemona-Monolog halten, vor einem Pin-up-Poster.

Mag sein, dass der russischstämmige Regisseur das Tabuisieren der Sexualität anders sieht, weil das in Osteuropa bis heute ein Thema ist. Dort hat es ja den 68er-Befreiungsschlag nicht gegeben.

Was Evgeny Titov mit dem Ensemble gut im Griff hat, ist die Emotion. Anna Rieser als Wenda sieht man in jeder verkrampften Geste an, wie Drang und Ahnungslosigkeit sich unmittelbar auf Körper und Seele auswirken. Lukas Watzl ist ein Melchior, der merklich mehr überspielt, als durchschaut. Jedenfalls einer mit Wissens-Vorsprung. Markus Pendzialek ist Moritz Stiefel, diese spätgeborene Reinkarnation eines romantischen Geistes. Ein paar junge Leute sind ja noch übrig geblieben in der Stichfassung, dafür holte man Schauspiel-Eleven von der Linzer Bruckner-Kunstuniversität. Sie sorgen für juvenilen Touch. So engagiert sich Evgeny Titov der „jungen“ Rollen annahm, so schablonenhaft wirkt seine Arbeit hinsichtlich der Alten.

Wie in einem Albtraum ziehen schließlich Drehbühnen-Bilder am Melchior vorbei: Mädchen haben sich im WC erhängt oder sonstwie ins Jenseits befördert, die Schulfreunde Otto und Hänschen, die eine homoerotische Beziehung aufgebaut haben, sind ebenfalls aus dem Leben geschieden. Melchior kommt an einem überdimensionalen, in Spiritus eingelegten Fötus vorbei und zieht schließlich die tote Wanda aus einem Kühlfach im Leichenschauhaus. Dort taucht Moritz' Geist auf, on screen und als Videoproduktion an der Wand. Er spricht mit einer künstlich generierten Stimme. Weiß geschminkt ist der „vermummte Herr“ (Vasilij Sotke), man denkt an Mephisto und das soll wohl so sein. Diese Jugendstil-Schauerszene ist rigoros gekürzt, dafür lässt Evgeny Titov danach eine Stimme singen „Schlafe,mein Kind“. Das ganze Ensemble fällt ein, und bei jeder Wiederholung dieser Textzeile wird der Gesang lauter, bedrohlicher: Das Einlullen der Jungen hat noch lange kein Ende. Vielleicht nie.

Aufführungen bis 22. November – www.landestheater-linz.at
Bilder: Landestheater Linz / Christian Brachwitz

 

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