Seht mich, die nackte Wahrheit

REST DER WELT / WIEN / DIE PERSER

26/05/17 Über das zu lange Schärpenkleid scheint Atossa, Mutter von König Xerxes, bei ihrem Auftritt mehrmals zu stolpern. Kaum findet sie wieder die Balance. Gold, alles Gold, nicht nur das Kleid. Auch die Haut Atossas wirkt wie gegerbtes Goldleder. Die persische Elite ist mit ihrem Besitzstand verwachsen, quasi verkrustet bis ins Fleisch.

Von Reinhard Kriechbaum

„Was wird aus dem Reichtum, den niemand beschützt?“ Das wird folgerichtig Atossas erste Frage sein, nachdem sie von der verheerenden Niederlage der Riesenstreitmacht der Perser bei Salamis erfahren hat. – Michael Thalheimer zeichnet Aischylos' Drama im Wiener Akademietheater als ein Lehrstück vom Scheitern der Eliten

Neunzig Minuten lang steht Christiane von Poelnitz unmittelbar an der Bühnenrampe. Nie wird sie sich umdrehen. Nicht zum Chor, dem einer allein – Falk Rockstroh – Gestalt und Stimme gibt. Nicht zum Boten (Markus Hering), der als erster Augenzeuge vom Unglaublichen berichtet und Namen um Namen von Gefallenen kund tut. Aber Atossa wird ebensowenig wenig hinsehen auf Dareios' Geist (Branko Samarowski), der den Größenwahn, die Selbstüberschätzung dieser Gesellschaft, die Hybris des Feldzugs gegen die Griechen anklagt. Und als Mutter wird sie nicht mal Xerxes selbst in die Augen sehen. Mit sich überschlagender Stimme wird der geschlagene König (Merlin Sandmeyer) sich selbst beklagen, gebadet nicht nur in Blut, sondern ertrinkend fast in Selbstmitleid: „Ich … glücklos … wie stehe ich da ohne Gefolge.“ Er tut es splitternackt, die sprichwörtliche nackte Wahrheit.

Wegschauen. Nicht wahrhaben wollen. Wie angewurzelt dastehen und doch eigentlich weglaufen wollen vor der Realität: Atossa steht fast neunzig Minuten als einzige im Lichtkegel, an der Vorderkante der Bühne. Sie spreizt die Hände, ringt um jene Facon, die zu behalten längst nicht mehr die der Wirklichkeit adäquate Verhaltensweise ist. Christiane von Poelnitz hat in dieser Rolle eigentlich nur Stichwörter zu bringen und ist in Michael Thalheimers Inszenierung doch der Nukleus. Wie schwer ist es, eigentlich Undenkbares zu realisieren! Das Mienenspiel spricht Bände vom Beharren. Zwar wird die Königsmutter sich Goldkleid und überlange Schärpe bald vom Leib reißen, aber sie wird sich im Grunde auch dann noch nicht mit dem Gang der Dinge abgefunden haben, wenn sich Xerxes ihr zuletzt wie ein Kind in den Schoß wirft. Da ist Aischylos' Drama zwar zu Ende, aber die Geschichte noch lange nicht.

Das Gegengewicht zu Atossa ist Falk Rockstroh. Als Solitär ist er der Chor des Persischen Ältestenrates. Schwarz geschminkt um die Augen, schneidend artikulierend führt dieser prägnante Charakter im grauen Anzug den Stimmungsumschwung vor. „Bitter wie du kann nur ich mich beklagen“, hält er Xerxes entgegen, während König wehleidig klagt: „Es strömen die Tränen, längst schwimme ich mit.“ Ein immer entschiedeneres „Nein“ schleudert er ihm entgegen.

„Die Perser“ sind nicht nur das älteste erhaltene Drama der Theatergeschichte. Es ist auch das erste und älteste Kolportage-Stück. Es wird in langen Monologen berichtet. Das kommt dem analytisch reduzierten Stil von Michael Thalheimer entgegen, dieses wort-orientierten Theater-Minimalisten.

Thalheimer setzt auf die Textfassung von Durs Grünbein. Nicht eigentlich Übersetzung, sondern ein präzise Ver-Heutigung ohne jeden Modernismus, ohne nach-dichterische Eitelkeit. „Wiedergegeben“ heißt es so schön im Programmheft. Grünbeins Nacherzählung bleibt nah am klassischen Versmaß, hält also Distanz aufrecht. Näher muss das Jahr 490 vor Christus gar nicht rücken. Man versteht schon, wenn Atossa fragt „Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?“ So abgehoben sind Eliten.

Olaf Altmann hat die Bühne völlig leer geräumt und dort Licht-Bildner Friedrich Rom zaubern lassen (beide sind mit Thalheimers Regiesprache vertraut wie nur). Die Rückwand sieht in dem irreal-fahlen Licht aus wie eine klassizistisch gegliederte Fassade – und es sind doch nur die übermannshohen, unansehnlichen Metallheizkörper. Die Berichte aus dem Halbschatten kontrastieren aufs Schärfste zur Distanziertheit, zur Ungläubigkeit der Erfolgsverwöhnten (dafür steht die im Lichtkegel positionierte Königsmutter). Zwischen den Szenen scheint die Decke herabzustürzen, pendelt nach vorne, droht Atossa zu zermalmen. Eine Schwade von Nebel wird frei, verzieht sich aber rasch wieder. Auch beim dritten Mal macht das Effekt.

Der Menge Bluts, die seit Beginn des Auftritt von Xerxes über die Bühne geronnen ist, wird man eigentlich erst gewahr, wenn es für die Schauspieler und das Team der Szeniker ans Verneigen geht. Obwohl der Boden kaum geneigt ist, will jeder Schritt vorsichtig gesetzt sein. Man reicht einander die Hände, um nicht zu schlittern. Ungeteilte Zustimmung, Jubel vor allem für die Schauspieler.

Bis 26. Juni im Akademietheater – www.burgtheater.at
Bilder: Burgtheater / Reinhard Werner