Orgien-Mysterien-Theater in München angekommen

REST DER WELT / MÜNCHEN / SAINT FRANCOIS D'ASSISE

04/07/11 Die vom Komponisten geforderte Riesenbesetzung, der religiöse Hintergrund und die Stellung als Zwitter zwischen Oratorium und Oper prädestinieren Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ geradewegs für eine Festspielaufführung. Einhelliger Jubel für Nagano und die Sänger, viel Ablehnung für die Szene von Hermann Nitsch in München.

Von Oliver Schneider

Mit diesem Markstein der Musiktheatergeschichte des 20. Jahrhunderts wurden am Freitag die Münchner Opernfestspiele eröffnet. In Salzburg werden bei diesem Werk sofort Erinnerungen an Peter Sellars‘ grandiose Inszenierung mit George Tsypins Bildschirm-Batterie und der Holzgestänge-Konstruktion in der Felsenreitschule 1992 wach. Bei der Wiederaufnahme 1998 dirigierte der heutige Münchner Generalmusikdirektor Kent Nagano, der schon bei der Pariser Uraufführung 1983 Seiji Ozawa assistierte hatte.

Selbstverständlich steht Nagano auch jetzt in München am Pult des herausragenden Bayerischen Staatsorchesters und lässt den bald fünfeinhalbstündigen Bilderbogen mit zwei Pausen zu einem überreichen Klangerlebnis werden. Im Graben des Nationaltheaters finden nur die Streicher, das Holz und ein Teil des Schlagwerks Platz, die übrigen Musiker verteilen sich links und rechts auf der Bühne sowie in den Proszeniumslogen. Dank einer entsprechenden Kostümierung werden die Musiker auf der Bühne auch in die szenische Konzeption von Hermann Nitsch einbezogen.

Dass sich Nagano immer wieder in seiner Karriere mit Messiaens einziger Arbeit für das Musiktheater beschäftigt,  ist spür- und hörbar, weil er die über weite Strecken homophone Partitur glasklar mit ihren hymnischen Dreiklängen sowie der ausgefeilten Rhythmik bis in die hintersten Winkel ausleuchtet. Von schlicht überirdischer Schönheit ist im fünften Bild die Engelsmusik mit den drei Ondes Martenot und den Streichern. Einem Feuerwerk gleich erklingen die polyphonen Vogelkonzerte in der Vogelpredigt. Das schmerzhafte Gegenteil drückt sich in den Staccato-Akkorden der Stigmata aus, wenn Franz die Wunden Christi am Kreuz erleidet und Nagano hämmernde Härte vom Orchester einfordert.

Schlicht eine Idealbesetzung für den Engel ist Christine Schäfer mit ihrem herrlich schwebenden und leuchtenden Sopran, die allein schon durch ihre Präsenz beim ersten Erscheinen im dritten Bild die Aufmerksamkeit voll auf sich lenkt. Paul Gay gestaltet dank seines sonoren, weichen Timbres einen von Innen Ruhe ausströmenden François, besitzt eine füllige Mittellage und eine klangvolle Tiefe. Auf gewohnt hohem Niveau gestalten Ensemblemitglieder François‘ Mitbrüder, John Daszak gibt den verzweifelten Leprakranken mit scharfer Charakterstimme. Sören Eckhoff hat die Chöre des Hauses am Ende seiner ersten Spielzeit als neuer Chordirektor nochmals optimal vorbereitet, so dass vor allem die Stimme  Christi bei der Stigmatisierung François‘ zu einem Glanzpunkt des Chorgesangs wird.

Messiaen verfasste auch das Libretto der acht Tableaus auf der Grundlage mittelalterlicher Volkslegenden über das Leben des heiligen Franziskus. François‘ Bestreben, Christus ähnlich zu werden, gipfelt in der Stigmatisierung. Die Tatsache, dass „Saint François d’Assise“ aufgrund seines rituellen Charakters mehr Oratorium als Oper ist, hat ihn für Hermann Nitsch nach seiner Wiener „Hérodiade“ und den „Faust-Szenen“ von Schumann in Zürich interessant gemacht.

Wie nicht anders zu erwarten, stiess auch seine dritte Arbeit für das Musiktheater am Ende des Premierenabends auf Begeisterung und Ablehnung, wobei die letztere überwog. Nitsch als der Ideengeber lässt dank über zwanzig Helfern auf der Bühne sein zum Teil mehr, zum Teil weniger passendes Repertoire an Aktionen ablaufen. Wechselnde Farbeinblendungen auf der Leinwand im Hintergrund, Kreuzigungsszenen, bei denen den Gekreuzigten immer wieder rote Farbe über den nackten Körper oder die Gewänder geschüttet wird, ein unvermeidliches Schweine-Opferritual als Videoeinspielung. Das alles natürlich in farbigen, archaisch geschnittenen Togen. Während der Vogelpredigt lässt Nitsch die Vogelschar – einen nach dem anderen – im Hintergrund auf die Leinwand projizieren. Eine gute Idee, die allerdings im Laufe des zentralen Bildes aufgrund permanenten Wiederholens nur zu einer unnötigen Verdopplung des musikalischen Geschehens führt.

Ein Ärgernis ist das Entstehen eines Schüttbilds im Schlusstableau, wenn François sich sterbend von seinen Brüdern und dem geheiligten Aussätzigen verabschiedet. Jedes Schütten von oranger, blauer, roter oder gelber Farbe verursacht unvermeidlich Lärm, der die Todesstimmung konterkariert. Dass es auch anders geht, beweist Nitsch in den ruhigen Engelsszenen und bei der Stigmatisierung, wo mit Leuchtstoffröhren die fünf Wunden Christi angezeigt werden.

Nitsch sieht sich als szenischer Konzeptionist und Gestalter, von Regie dürfte mangels Personenführung nicht gesprochen werden. Da es Messiaen in seinen Tableaus nicht um das Erzählen einer dramatischen Handlung geht, könnte man Nitsch durchaus zugutehalten, einen möglichen Deutungsweg gefunden zu haben. Freilich: Ob im Burgtheater oder auf der Opernbühne, es dominieren immer wieder die gleichen Bilder. Letztlich inszeniert Hermann Nitsch sich selbst.

Weitere Vorstellungen am 5. und 10. Juli im Rahmen der Münchner Opernfestspiele. - www.staatsoper.de