Böse Kinder in der Oper

MÜNCHEN / RAVEL, ZEMLINSKY

01/03/11 Zwei unartige Kinder stehen im Mittelpunkt der dritten Saisonpremiere der Bayerischen Staatsoper, die auf ungeteilte Zustimmung stieß. Die Kombination von Ravels Stil-Potpurri „L’Enfant et les sortilèges“ mit Zemlinskys die Grenzen der Spätromantik sprengenden „Der Zwerg“ ist deshalb so reizvoll, weil die beiden im Mittelpunkt stehenden Kinder so unterschiedlich mit ihren ersten Lebenserfahrungen umgehen.

Von Oliver Schneider

Im „Zwerg“ frei nach Oscar Wildes „Der Geburtstag der Infantin“ erhält die verwöhnte Infantin als Geburtstagsgeschenk einen hässlichen Zwerg, der sich noch nie im Spiegel gesehen hat und demzufolge nichts von seinem Aussehen weiss. Er verliebt sich in die Prinzessin, die mit ihm aber nur ein grausames Spiel treibt. Als er sich erstmalig im Spiegel sieht, stirbt er aus Gram über sein Äußeres, während sich die Infantin ungerührt beim nächsten Mal ein Spielzeug ohne Herz wünscht.

Gregorz Jarzyna und sein Ausstattungsteam, die seit Ende der neunziger Jahre die Warschauer Theaterszene prägen, waren gegen Ende der Ära Bachler schon am Burgtheater zu Gast, sind quasi Weggefährten Bachlers. Sie haben das Spiel der gefühllosen Infantin mit dem Aussenseiter, das auch für das Verhältnis zwischen Zemlinsky und Alma Schindler steht, in einem Wald verortet. Doch dies ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass man einen einheitlichen Bühnenraum für die beiden Werke des Abends nutzen wollte, denn eine tiefere Bedeutung hat der Wald im „Zwerg“ nicht. Jarzyna konzentriert sich auf die Zeichnung der Personen: die Infantin Donna Clara als Repräsentantin der blasierten höfischen Gesellschaft, ihre Dienerin Ghita, die mit dem Zwerg Mitleid hat (Irmgard Vilsmaier mit resonanzkräftiger Stimme), und den Zwerg selbst, der das Lachen der Menschen über ihn als Freundlichkeit missdeutet. John Daszak bewältigt die hoch liegende, anspruchsvolle Partie mit ihren harmonischen Brechungen stimmlich tadellos. Es stört auch nicht, dass er ob seiner Größe ganz und gar nichts Zwergenhaftes an sich hat. Im Gegenteil: In seinem schlichten schwarzen Anzug hebt er sich klar von der höfischen Damengesellschaft mit ihren von innen beleuchteten Reifröcken ab (Kostüme: Anna Nykowska Duszynska). Die Infantin erinnert mit ihren langen roten Haaren an Velázquez‘ Infantin Margarita. Camilla Tilling gibt die ahnungslose Egozentrikerin stimmlich expressiv und darstellerisch rollengerecht kalt.

Eine weitaus amüsantere Parabel bietet der erste Teil des Abends, Ravels lyrische Phantasie „L‘Enfant et les sortilèges“. Weil ein unartiges Kind keine Schularbeiten machen will, muß es zur Strafe in seinem Zimmer bleiben. Das gibt seinem Trotz noch mehr Auftrieb, und Teegeschirr, Polstermöbel, Tapete und Haustiere werden malträtiert. Doch plötzlich scheint es zu spuken: Die Wedgwood-Teekanne und die chinesische Teetasse klagen über das Kind, ebenso ein aus der Tapete kommendes Schäferpaar und die Prinzessin aus dem halb zerrissenen Märchenbuch. Dies ist wieder Camilla Tilling im selben Kostüm wie anschliessend im „Zwerg“, obwohl die Prinzessin weder charakterlich noch musikalisch etwas mit der Infantin zu tun hat. Plötzlich findet sich das Kind im Garten wieder, wo sich auch die Bäume und Tiere der Rebellion anschließen. Während die Aggression ihm gegenüber steigt, wird auch eine eitle Eichhörnchendame verletzt. Liebevoll verbindet das Kind die Wunde und gewinnt damit das Wohlwollen seiner Umwelt zurück. Anders als die Infantin hat das Kind einen Reifeprozess mitgemacht und damit die Achtung der anderen zurückgewonnen.

Ein Abend der Gegensätze, natürlich auch musikalisch. Einen bunten Stilmix hat Ravel für seine Parabel gewählt: Tanzmusik vom Menuett bis zum Foxtrott, Music-Hall-Anklänge, ein bisschen Jazz, Belcanto-Light für das Kaminfeuer und die Nachtigall, kunstvoll kombiniert.

Ende des 19. Jahrhunderts kam der Film als neue Kunstform auf und erregte auch das Interesse von Ravels Librettistin Colette. Sie veröffentlichte Essays zu Film und Kino, schrieb Filmkritiken und verfasste Drehbücher. Wohl deshalb und wegen des Fantasy-Charakters legen Jarzyna und sein Team eine zweite Ebene über die Handlung und lassen die Geschehnisse filmisch festhalten. Der stumme Roland Koch, seines Zeichen geschätzter Burgschauspieler, führt Regie auf der Bühne. Das Zimmer wird in den Anhänger eines Sattelschleppers verlegt und live darüber projiziert. Eine zwar reale, aber unglückliche Lösung, weil der niedrige Raum die Stimmen schluckt, so dass trotz des durchsichtigen Spiels des Bayerischen Staatsorchesters unter seinem Chef Kent Nagano die vielen jungen Stimmen schlecht in den Zuschauerraum dringen. Wesentlich einfacher hatten es die Laubfrösche und Vögel dann im zweiten Teil im Garten. Tara Erraught durfte hier beweisen, dass sie nicht nur darstellerisch, sondern auch musikalisch mit ihrer beweglichen schlanken Stimme eine gute Wahl für diese Partie ist.

Stichwort Ensemble: Vor allem „L’Enfant et les sortilèges“ ist eine Ensemble-Oper par excellence, jede Rolle ist liebevoll besetzt und wird mit Hingabe interpretiert. Musikalisch ist der Abend bei Kdent Nagano in besten Händen. Während er bei Ravel vor allem an den Details gefeilt hat, um jederzeit den jeweils imitierten Stil perfekt wiederzugeben, lässt er bei Zemlinsky der emotionalen Üppigkeit den nötigen Raum. Obwohl das Orchester selbst einer der Hauptprotagonisten ist, sorgt Nagano schließlich dafür, dass die schillernde musikalische Farbenpracht nicht zu Lasten der Solist überbordet.

Weitere Vorstellungen: 3., 6., 9., 13., 20. März und 22. Juli. - www.staatsoper.de