Die Oper als Vehikel für die eigene Weltsicht

MÜNCHEN / FIDELIO

31/12/10 Beethovens Freiheitsoper im gläsernen Labyrinth. Regisseur Calixto Bieito und Dirigent Daniele Gatti müssen für ihren Münchner „Fidelio“ Buhs einstecken.

Von Oliver Schneider

Während Maestro Daniele Gatti das Bayerische Staatsorchester pauschal, streichergesättigt und erdig durch die dritte Leonore-Ouvertüre führt, klettern Männer vom Orchestergraben auf die Bühne, um sich in einem gläsernen, vertikal aufgerichteten Glaslabyrinth mit Kammern hin- und her zu hangeln (Ausstattung: Rebecca Ringst). Fidelio – eine Rettungs-, Befreiungs-, Schreckens- oder Revolutionsoper? Bei dem katalanischen Regisseur Calixto Bieito ist es eigentlich nur der Versuch einer Befreiungsoper, aber wie zu erwarten nicht im Sinn der bisherigen Werkrezeption.

Indem Bieito mit dem Labyrinth das innere, geistige Gefängnis der Menschen symbolisiert, nimmt er dem Werk seinen heroischen Charakter. Er holt es herunter auf eine persönliche, individuelle Ebene und macht es so zu einer zeitgeistigen Oper. Das Labyrinth des einzelnen besteht aus rezipierten Bildern und Erfahrungen, von denen man sich nur schwerlich befreien kann.

Wer die für Bieito typische drastische Bildsprache erwartet, wird in München enttäuscht. Zwar steht auch sein Labyrinth gemäss den wie immer ausgezeichneten Sekundärtexten im Programmbuch für das Spannungsverhältnis zwischen Sexualität und Liebe, Trieb und Treue. Doch für einmal überlässt es der Katalane dem Zuschauer, sich selbst über sein Labyrinth Gedanken zu machen. Nur ganz zu Beginn wird er deutlich, wenn Jaquino seine Marzelline in puncto Liebe und Ehe zur Rede stellt, während sie umherklettern. Dabei macht  der finnische Tenor Jussi Myllys mit stereotypen Macho-Gebärden deutlich, worum es ihm bei der Liebe eigentlich geht und dass er auch, um das zu erhalten, vor Gewalt nicht zurückschreckt. So passend die Kletterei in diesem Moment übrigens ist, den Stimmen des jungen Finnen und von Laura Tatulescu ist sie abträglich.

Immer ein Problem bei „Fidelio“-Aufführungen sind die Dialoge, vor allem im ersten Aufzug. Bieito hat sich deshalb entschieden, diese so weit wie möglich zu streichen und durch Texte von Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy zu ersetzen. Das mag stimmig im Rahmen des Gesamtkonzepts sein, führt aber dazu, dass die musikalischen Nummern im ersten Aufzug aneinandergehängt wirken und der Zusammenhang fehlt. Würde sich Leonore nicht zu Beginn als Mann verkleiden, wüsste der unbedarfte Zuschauer nicht, worum es die nächsten rund zweieinhalb Stunden geht.

Verstärkt wird die Zusammenhanglosigkeit noch dadurch, dass Bieito auf eine Personenführung im ersten Aufzug verzichtet. Erst im dunklen Kerker im zweiten Aufzug nimmt er sich dieser an, wobei sich das gewaltige vertikale Glasgestell geräuschvoll und von Donnern begleitet in die Horizontale verschiebt. Leonore stellt sich hier nicht nur wortgewandt, sondern auch mit Kraft dem von Wolfgang Koch gar nicht so schwarz gesungenen Don Pizarro entgegen und schüttet ihm Salzsäure ins Gesicht, nachdem er sich gegenüber Florestan als sein Intimfeind geoutet hat.

Nachdem die dritte Leonore-Ouvertüre schon zu Beginn erklungen ist, haben sich Gatti und Bieito für den Übergang zum Schlussjubel etwas Spezielles einfallen lassen. Das Odeon-Quartett senkt sich in drei Käfigen vom Schnürboden herab und spielt ohne Fehl und Tadel in gekürzter Fassung das Molto adagio aus Beethovens a-Moll Quartett op. 132, den „heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“. Robert Maschka zieht in seinem lesenswerten Aufsatz im Programmheft die Verbindung zwischen der Komposition des Quartettsatzes nach einer schweren Krankheit im Jahr 1825 und Leonores Soloszene im ersten Aufzug „Abscheulicher, wo eilst du hin“. Womit man bei der Kernaussage der Inszenierung angekommen ist: Mentale Stärkung ist nötig, um aus dem inneren Labyrinth ausbrechen zu können. Freiheit bietet schliesslich die Kunst, was bei Bieito Aussage des Schlussjubels sein soll.

Die Inszenierung hat sicherlich ihre starken Seiten, ist dramaturgisch durchdacht und punktet mit der aufwendigen Bühnenkonstruktion. Sie krankt aber daran, dass Beethovens Werk mit seinen allgemeingültigen, überindividuellen Aussagen krampfhaft so zurechtgebogen wird, dass der Regisseur seine eigene Sicht auf das einzelne Ich im Postmaterialismus transportieren kann. Aber Bieito darf man trotz allem zugutehalten, dass seine Inszenierungen zumindest zum Mitdenken zwingen. Möge es weiter Regisseure wie ihn geben, die sich dem Retro-Trend der einfachen Bebilderung widersetzen.

Voll befriedigen kann der Abend von sängerischer Seite. Anja Kampe ist eine ideale Leonore, zeichnet sich ihr obertonreicher Sopran doch durch eine flexible und klangvolle Mittellage und farbenreiche Spitzentöne aus, die sie allerdings nicht immer ganz mühelos erreicht. Jonas Kaufmann ist ihr im Glaslabyrinth gefangene Gatte, der aber aufgrund einer schweren Erkältung die besuchte dritte Aufführung nicht singen konnte (und auch schon die zweite abgesagt hatte). Die Bayerische Staatsoper und das Publikum konnten sich aber über den Einspringer glücklich schätzen: Robert Dean Smith, der schon bei seinem quasi aus dem Nichts kommenden musikalischen Aufschrei  „Gott! Welch Dunkel hier!“ bewies, wie ausgezeichnet er seine Stimme und Kontrolle hat. Er punktete nicht nur mit seiner Strahlkraft, sondern einmal mehr auch mit seiner unvergleichlichen Textdeutlichkeit. Franz-Josef Selig ist der zwischen Geldgier, Gutmütigkeit, Handlanger- und Rebellentum hin- und her schwankende Rocco. Er hat die Partie übrigens schon 1998 in der Wernicke-Inszenierung im Grossen Festspielhaus bei den Salzburger Festspielen gesungen und ist heute, zwölf Jahre später, mit seinem charismatischen Bass ganz mit ihr eins geworden. Die von Sören Eckhoff einstudierten Chöre sind schliesslich ein Garant für den Hörgenuss dieser Neuproduktion.

Der enttäuschende Eindruck vom Orchester setzt sich im Laufe des Abends leider fort, weil zwar schönstimmig und auf hohem Niveau musiziert wird, Daniele Gatti aber nicht die Akzente zu setzen vermag, die man sich von einer heutigen Beethoven-Inszenierung wünschen würde. Heutig ist nur das, was auf der Bühne passiert.

Nächste Vorstellungen: 1., 5., 8. Jänner sowie 4. und 8. Juli 2011 (Dirigent der Festspielaufführungen: Fabio Luisi). - www.bayerische.staatsoper.de