Eine Sowjetstadt par excellence

HINTERGRUND / UKRAINE / KULTURSCHÄTZE (4)

21/03/22 Einen weiten geographischen Sprung machen wir, aus dem vergleichsweise beschaulichen westukrainischen Lemberg und den kleineren Städten Galiziens weit in den Osten, mehr als tausend Kilometer. Findet man etwas Verbindendes zwischen Lemberg/Lwiw und Charkiw?

Von Reinhard Kriechbaum

Der aktuelle Stand ist schwer einzuschätzen. Unmittelbar auf Lemberg hat es noch keine Luftangriffe gegeben, wogegen der Kampf um Charkiw bereits zu erheblichen Verwüstungen auf Stadtgebiet geführt hat. Als man hierzulande vor zwei Wochen über die stornierten Auftritte von Gergiew und der Netrebko diskutierte, kursierten im Netz Handy-Videos, die möglicherweise einen Brand auf dem Dach der Oper von Charkiv zeigten.

Ja, das ist schon eine Gemeinsamkeit: Lemberg und Lwiw sind ukrainische Opern-Städte (die wichtigsten neben Kiew und Odessa). Aber die Häuser könnten unterschiedlicher nicht sein. Während in Lemberg ein Musentempel ganz in der Tradition der Helmer&Fellner'schen Jahrhundertwende-Theater steht, sprechen die Bewohner von Charkiv von ihrer Oper nicht ganz zu Unrecht von einem „Flugzeugträger“. Ein kühner Betonbau im Stil des Brutalismus, rekordverdächtig mit einer Bauzeit von 21 Jahren. 1991, im Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine, ist dieses auf seine Art durchaus spektakuläre Opernhaus in Betrieb gegangen. Es gab Vorgängerbauten, im 19. Jahrhundert schon.

Ein Hohn eigentlich, dass die Oper in Charkiv, also in einer „russischsten“ Städte der Ukraine, nach deren Nationalkomponisten Mikolaj Witaljewitsch Lyssenko (1842-1912) benannt ist. Von den hat sich eigentlich nur ein einziges Wer, die Oper Taras Bulba, bis in den Westen durchgesprochen. Etwas anderes als die sehr nach Tschaikowsky klingende Ouvertüre wird kaum irgendwo gespielt.

Charkiv, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, hat mehrere Theaterbühnen. Auch das Nationaltheater hat pikanterweise einen ukrainischen National-Künstler als Namenspatron, den Schriftsteller und Maler Taras Schewtschenko (1814-1861). Der spielte keine geringe Rolle bei der Herausbildung der heutigen ukrainischen Schriftsprache. Gleich neben dem Theater, im Park, stehen Denkmäler für Gogol und Puschkin – das ist irgendwie stimmiger hier, am Westrand der Ukraine, als der Nationaldichter, der in einer Sprache geschrieben hat, die man fünfhundert Kilometer weiter westlich spricht.

So weit liegt Charkiw – russisch: Charkow – von Kiew weg. Dafür ist es nur vierzig Kilometer entfernt von der russischen Grenze, was sich in den Kriegshandlungen jetzt fatal auswirkt. Die Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern steht, durch die historischen Zeitläufte bedingt, für eine völlig andere Ukraine als beispielsweise das ehemalige Galizien. Ab den 14. Jahrhundert gehörte das ursprüngliche, kurzlebige Reich der Kiewer Rus zu Polen. Im Widerstand gegen die polnische Herrschaft haben sich die Kosaken besonders hervorgetan. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelang es einem ihrer Anführer ein autonomes ukrainisches Staatswesen gegen die polnischen Herrschaftsansprüche zu etablieren, das aber nur einige Jahrzehnte existierte. Im Verlauf der Teilung Polens 1792 kam Galizien zur Habsburgermonarchie, der große Rest ans russische Zarenreich.

Das grenznahe Charkiv hat noch eine viel differenziertere Geschichte: Die Stadt wurde von den Russen ursprünglich als Festung zur Verteidigung der Südgrenzen Russlands – also gegen die Ukraine und speziell gegen die Kosaken Mitte des 17. Jahrhunderts gegründet. Als Ukraine und Russland vereinigt wurden war militärische Kompetenz nicht mehr gefragt und die Stadt mutierte zur Handelsmetropole. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war Charkiv die Verwaltungshauptstadt der russischen Ukraine. Es ist die Perversion schlechthin, wenn russische Geschütze nun ausgerechnet auch Charkiv gerichtet werden.

Es haben schon etliche ältere Kirchen überlebt, aber vor allem ist Charkiv ein Architekturmuseum der ehemaligen Sowjetunion. Berühmt ist der riesige, in den 1920er und 1930er Jahren angelegte Freiheitsplatz. Schon 1928 entstand hier das Dershpromgebäude, ein Hauptwerk des russischen Konstruktivismus. Der erste russische Wolkenkratzer, älter auch als die meisten Hochhäuser in New York. Später hat Stalin auch dieser Stadt seinen architektur-ästhetischen Stempel aufgedrückt, aber man findet hier Bauwerke eigentlich für jede Bau-Strömung in der ehemaligen Sowjetunion. Genau deshalb haben sich jüngst westliche Denkmalschützer zu Wort gemeldet, die befürchten, Charkiw sei derzeit schwerer beschädigt als im Zweiten Weltkrieg. Die Ukrainer rechneten vor kurzem noch damit, dass zumindest das Dershpromgebäude als UNESCO-Weltkulturerbe eingestuft würde. (Wird fortgesetzt)

Bilder: www.kharkovinfo.com (2); tourcenter.kh.ua (1); wikimedia.org:/ Nikolai Sleta (1)
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