So kommen Nymphen zum Liebesglück

PFINGSTFESTSPIELE / POLIFEMO

09/06/19 Alto Giove, Hoher Jupiter (oder Zeus): Wer den Film Farinelli kennt, hat die Sonnenuntergangsszene vor Augen und die Töne im Ohr, mit denen der Sänger die verdüsterte Seele des Spanierkönigs auflichtet. Die Arie stammt aus Nicola Antonio Porporas Oper Polifemo, bei den Pfingstfestspielen am Samstag (8.6.) zur Nachmittagsstunde in der Felsenreitschule zu erleben.

Von Reinhard Kriechbaum

In dem geradezu überrumpelnd-ruhigen Lobgesang an die Gabe der Unsterblichkeit scheint die Zeit plötzlich angehalten – und das ist ein Alleinstellungsmerkmal in der Oper eines Komponisten, dessen Genius es war, in jeder Arie eine schiere Übermenge an Noten unterzubringen. Nicola Porpora (1686-1768) war als Impresario eines Opernunternehmens in London ein gefährlicher Gegenspieler Händels. Wofür Porpora musikweltberühmt war: Keiner verstand damals die vokale Dekorationskunst besser als er. Er bildete Sänger aus und hing ihnen die denkbar bravourösesten Tongirlanden in die Kehlen.

Damit ist Polifemo, eine von gut fünfzig Opern Porporas, hinreichend umrissen: Es ist Stoff, der fast ausschließlich aus Koloraturfäden gewebt ist. Polifemo ist nicht nach Händel-Kriterien zu messen, mit dem Anspruch musikalischer Charakterisierung, gar Psychologisierung von Opernfiguren. Hier geht’s immer zuerst ums Virtuose, um das Prunken mit Koloraturen, mit Trillern und anderen Verzierungen. Und das Spannendste ist stets, wie die Sängerinnen und Sänger aufs ohnedies schon imponierend Hochanspuchsvolle einer jeden Arie noch eins draufsetzen und sich nochmal in ausgreifenden Kadenzen ergehen.

Porpora hat jede Rolle seinen Protagonisten auf den Leib geschrieben. Die Aufführung bei den Pfingstfestspielen Salzburg hat gewirkt, als ob man es mit Wiedergängern der Ur-Besetzung zu tun hätte: jeder Sänger, jede Sängerin schien in einem eigens maßgeschneiderten Musik-Gewand zu stecken. Höchst eindrucksvoll, was der Countertenor Max Emanuel Cencic („Szenische Einrichtung“, sprich Regie) und der Dirigent des griechischen Originalklangorchesters Armonia Atenea für die Felsenreitschule zustande gebracht haben. Da sind Leute am Werk, die die internationale Szene und die Stärken ihrer Kollegen genau einschätzen können.

Die Geschichte(n): Da sind einmal Aci, Galatea und Polifemo, der den Nebenbuhler unter einem Felsblock zermalmt, worauf Acis zu göttlicher Unsterblichkeit erhoben wird (als Dank singt er dann sein famoses Alto Giove). Als zweites Paar sind Calipso und Ulisse in die Story eingewoben. Auch Odysseus bekam es ja mit Polyphem zu tun, und in Porporas Oper sind wir außerdem Zeuge der Beziehungsanbahnung zwischen Odysseus und der Zauberin (was ihm die Odyssee letztlich um sieben Jahre Liebesglück versüßte). Diese Geschichten-Klitterung ist dramaturgisch mehr als holprig geraten. Diese endlose Arien- und Arioso-Folge am Ende, bis endlich das Lieto fine kommt! Der erste Akt hat überhaupt keine Handlung, es gibt nur jede Bühnenfigur ihre mit Koloraturen dicht bedruckten Visitenkarten ab...

Aber was soll's, wenn so gesungen wird wie von diesem slawischstämmigen Ensemble. Der ukrainische Countertenor Yuriy Mynenko stand nicht nur mit seinem bezwingend intensiven Alto Giove im Mittelpunkt. Aci und Galatea – die russische Sopranistin Julia Lezhneva – sind die wirkungsvollsten Arien anvertraut.

Mit viel Liebe gezeichnet die Männerrollen: Pavel Kudinov wirkt als Polifemo mit seiner Augenklappe nicht wirklich ungeschlacht, eher wie ein Amateur-Pirat auf liebesglücklosem Landgang. Pubertäre Selbstüberschätzung könnte man bei Ulisse (Max Emanuel Cencic) diagnostizieren. Sonja Runje (Calipso) und Dildara Idrisova (Nerea) – eine Rangordnung hinsichtlich technischer Brillanz und stilkundiger Verzierungskunst ließe sich in dieser fulminant-gleichwertigen Sängergruppe nicht ausmachen.

In einem Duett beklagen die Nymphen Galatea und Calipso ihr Schicksal, letztlich von Amor zu einer Liebe mit Sterblichen gezwungen zu werden.Im Hintergrund pinkelt derweil Odysseus gegen einen Felsen... Sie szenische Einrichtung durch Max Emanuel Cencic bietet immer wieder solch kleine Ironie-Würzungen. In der riesigen Felsenreitschule hat Bühnenbildnerin Margit Ann Berger ein kleines Spiel-Oval zwischen Felsblöcken arrangiert, Videoprojektionen suggerieren die Nähe des Meers. Viel Stimmung mit einfachen Mitteln, mehr Szene und Regie braucht's nicht.

Nur als Eingangschor und ganz am Schluss eher marginal gefordert der Salzburger Bachchor. Das Orchester Armonia Atenea fand bei Porpora wenig Entfaltungsmöglichkeit – er war eben ein Sänger-Komponist schlechthin. Bemerkenswert immerhin in diesem Werk die vielen Accompagnato-Rezitative. Sie binden oft zusammen, was von der Libretto-Dramaturgie recht zusammengewürfelt wirkt. Da hat George Petrou am Pult die Affekte sicher gelenkt und im übrigen den Sängerinnen und Sängern alle Freiräume geschenkt, die sie für ihren Rattenfänger-Belcanto des Barock brauchen.

Bilder: Salzburger Festspiele /Marco Borrelli