Gutmenschin im Parnass der Grand Opera

OSTERFESTSPIELE / LA GIOCONDA

28/03/24 Was für eine Szene! „Suicidio!“ schreit die Straßensängerin Gioconda hinaus. Das Fläschchen mit Gift wäre eigentlich für die Nebenbuhlerin gedacht gewesen wäre (der Ehemann hat der ungetreuen Laura den Selbstmord nahe gelegt). Nun aber ist die Gioconda kurzzeitig selbst entschlossen, ihrem Leben den Garaus zu machen.

Von Reinhard Kriechbaum

Sie überlegt sich die Sache mit dem Suizid ohnedies nochmal. Denn noch ist das Werk der Gioconda, der Gutmenschin schlechthin im Parnass der italienischen Oper, noch nicht vollbracht. Drei Stunden lang greift diese Frau wie ein rettender Engel ein in jede der an Intrigen sinistrer Bass-Bösewichter reichen, verworrenen Handlung ein. Die Gioconda rettet ausgerechnet die heimliche Geliebte ihres Geliebten (ja, echt!) immer wieder aus lebensbedrohlichen Situationen. Das ist wahre Selbstverleugnung.

La Gioconda von Amilcare Ponchielli bei den Osterfestspielen, das erste Mal überhaupt in Salzburg. Wirklich zum Kanon gehört diese Grand Opera aus dem Jahr 1876 nur in Italien. Aber wenn man zwei famose Sopranistinnen, zwei tolle Bässe, zumindest einen brauchbaren Tenor und einen wendigen Opernchor hat, dann ist man auch nördlich der Alpen mit diesem hoch emotionalen und melodien-satten Stück gut beraten. Freilich: Tosca ist's keine, obwohl man hier manchmal das Gefühl hat, dass die beiden Frauen, die in eigenartiger Solidarität zueinander stehen, es jeweils mit einem Scarpia zu tun haben.

Die Gioconda – Anna Netrebko – liebt Enzo (Jonas Kaufmann). Der lebt undercover in Venedig. Als Exilant tarnt er unter kessem Matrosenkäppchen seine adelige Herkunft aus Genua. Laura (Eve-Maud Hubeaux), Frau des Inquisitions-Oberbeamten Alvise (Tareq Nazmi) ist Enzos Jugendliebe. Der Spitzel Barnaba (Luca Salsi) ist ein besonderer Fiesling, der andauernd der Gioconda an die Wäsche will. Wer nun aus welchen Gründen gerade wieso in Lebensgefahr schwebt, wessen Flucht spontan vereitelt wird (oder doch gelingt), tut wenig zur Sache. Vielleicht hat Arrigo Boito gewusst, warum er sein Libretto unter dem Pseudonym „Tobia Gorrio“ versteckt hat. Ein Werk aus dem „Reich der effektvollen Unwahrscheinlichkeit“, lästerte einst Hanslick bei der Wiener Erstaufführung. Das Libretto ist fürwahr nicht erste Sahne, aber es bot dem Komponisten immerhin die Option, die Gefühlsskala bis an die Extremwerte auszureizen – und das mit gar wundervollen Melodien.

Darauf verstand sich der Verdi-Epigone Amilcare Ponchielli, und darauf versteht sich auch Antonio Pappano am Pult des Orchestra dell'Accademia nazionale di Santa Cecilia. Dieser famose Opernkapellmeister hat es im kleinen Finger hat, wie man Sängerinnen und Sängern zuarbeitet. Er weiß auch, den Orchesterpart gerade so auszuleuchten, dass gelungene Details idiomatisch herauskommen und der Komponist nicht bloßgestellt wird. Es ist ja auch vieles eher routiniert-flächig gearbeitet in dieser Partitur. Kein Verdi eben...

Man erlebt bei der Osterfestspiel-Oper heuer ein Vokal-Fest sondergleichen. Anna Netrebkos Stimme hat vor allem in der tieferen Lage mächtig an Intensität und Ausdrucksvermögen zugelegt. Diese Gioconda schleudert ihren Zorn machtvoll hinaus, die Stimme bleibt in der Höhe, wenn's um feinere Seelenempfindungen geht, aber geschmeidig, ja schwerelos. Auf dem Lagenkontrast liegt der Reiz dieser Rolle, die wie maßgeschneidert wirkt auf die gegenwärtige perfekte Stimmverfassung der Netrebko. Eindringlicher, aber auch tonschöner kann man die Seelenzustände der Gioconda nicht vermitteln. Dazu handverlesene Partnerinnen, Agnieszka Rehlis als blinde Mutter und Eve-Maud Hubeaux als charismatische, in ihrem Schicksal taumelnde Laura.

An Jonas Kaufmann scheiden sich seit je her die Geister: Er ist nicht der Inbegriff von italienischem Tenor, und ein wenig ist man auch bei gelingenden leuchtenden Phrasen und (sparsamen) Spitzentönen versucht darüber nachzudenken, ob dies schon sein Metier ist. Aber was er an Gestaltungsvermögen in der Mitteltage anzubieten hat, fordert Respekt ein. Bei Luca Salsi (Barnaba) ist die Sache klar: Vor einem derart bühnen-omnipräsenten Bösewicht muss man sich in Acht nehmen. Und Tareq Nazmi, als Alvise die schwarz-mächtige Stimme der alles zermalmenden Inquisition und obendrein der gehörnte Ehemann: Da hilft nur Flucht zu Wasser aus dem Wirkungskreis der venezianischen Macht, in dem Fall nach Dalmatien.

Musikalisch präzis und wirkungsvoll gearbeitet sind die vielen Chorszenen, vor und hinter der Bühne sind die Santa Cecilia-Kräfte und die Mitglieder des Bachchores Salzburg präsent. Nicht minder auf dem  Punkt das Hinterbühnenorchester (gestellt von der Universität Mozarteum). Einmalige Musik-Tableaus, die manche szenische Halbherzigkeit vergessen machen.

Ja, die Inszenierung von Oliver Mears, in klobig-grau dräuenden Fin-de-siècle-Dekorationselementen von Philipp Fürhofer: Das ist ein eigenartiges Konglomerat aus Opernklamotte und eher sparsamer Regietheater-Ambition. Wird eine Geschichte glaubwürdiger, wenn der Opernchor heutig gekleidet ist und dann doch permanent synchron die Hände ringt? Rückt sie uns näher, wenn die Bass-Bösewichter dunkle Anzüge tragen anstatt Renaissance-Gewänder?

Der Regisseur hat sich eine Vorgeschichte ausgedacht: Die Gioconda ist als Kind schon an Männer verscherbelt worden, die ihr Zuckerwatte als billiges Präsent unterjubelten und sie in goldfunkelnde Kleidchen steckten. Diese Motive werden weitergeführt in Tanzeinlagen bis hin zum allgemein bekannten „Tanz der Stunden“. Und noch in der Finalszene wird die Gioconda ins Goldkleidchen schlüpfen und ein letztes Mal die Beine breit machen für Barnaba, der da freilich anstatt zum Liebesglück der Frau frontal ins Messer rennt. Das steht so nicht im Libretto, dem gemäß die Gioconda zuletzt tatsächlich Suizid verüben sollte. Hier muss der Vergewaltiger dran glauben. Zuletzt wird die Gioconda das Messer nicht an die eigene Brust setzen, sondern es hinwerfen. Vielleicht war die psycho-neurologische Rosskur an ihr, die wir während einer Zwischenakt-Musik haben beobachten können, doch zu etwas gut.

Letzte Aufführung in Salzburg am Ostermontag, 1. April – osterfestspiele.at –  im Hörfunk am 6. April um 19.30 Uhr in Ö1
Bilder: Osterfestspiele Salzburg / Bernd Uhlig