Pietät in Schutzmontur

NACHGEFRAGT BEI WALTER MÜLLER

16/04/20 „Die Menschen setzen sich zu wenig mit dem Leben auseinander. Dann kommt der Tod. Oft fängt man erst dann an, sich zu erinnern. Man sollte schon im Leben mehr über das Leben nachdenken.“ Walter Müller – Schriftsteller, Journalist und Dramaturg, Geburtstags-, Hochzeits- und Trauer-Redner – steht mit dem Tod nicht erst seit Beginn der „Krise“ auf vertrautem Fuß.

Von Heidemarie Klabacher

„Freunde, Arbeitskollegen, ehemalige Mitschüler und natürlich Familie und Verwandtschaft: Menschen, die einzelne Lebensphasen oder auch das ganze Leben mit den Verstorbenen geteilt haben, kommen zusammen, um ihre Wertschätzung zu bekunden und um sich gemeinsam zu erinnern.“ Das Zusammensitzen nach der Beerdigung sei zentraler Bestandteil unserer Trauerkultur: „In Gemeinsamkeit und Miteinander stärkt man sich durch die Feier.“

Walter Müller, 1950 in Salzburg geboren, feierte am 13. April seinen Siebziger. Er lebt, seit 1981 als freischaffender Autor, in seiner Heimatstadt. Die Corona-Krise hat direkte Auswirkungen auf Trauer- wie Bestattungs-Kultur. Das spürt unmittelbar auch der Trauer-Redner: „Die Nähe fehlt.“ Nicht nur beim „Ausmachen und Besprechen“ mit Hinterbliebenen: „Distanz halten in einem Moment, in dem Nähe so wichtig wäre, ist wie ein quadratischer Kreis.“ Bis zu zehn Personen dürfen aktuell in einer Aussegnungs- oder Feuerhalle Platz nehmen, natürlich auch sie nur mit Mund- und Nasenschutz. Der Trauer-Redner dürfe ohne Mundschutz sprechen, „wenn die Halle groß genug ist“.

In Stadt und Land Salzburg gebe es zum Glück nur vergleichsweise wenige Corona-Tote zu beklagen. „Aber wenn jetzt ein Corona-Patient stirbt, müssen die Mitarbeiter der Bestattung in voller Schutzmontur ausrücken, um den Verstorbenen abzuholen“, berichtet Walter Müller, um zu betonen: „Pietät kann man auch in Schutzmontur zeigen. Pietät ist eine Lebenshaltung. Aber die Vorstellung ist belastend.“ Dennoch erwüchsen in der Krise trostvolle Nebenaspekte wie etwa immer mehr Kondolenz-Seiten auf Websites oder virtuelle Kerzen-Ständer: „Wenn Anteilnahme schon nicht aus der Nähe vermittelt werden soll, dann halt über diese Medien aus der Distanz.“

Früher einmal wollten die Menschen so nahe als möglich, am besten in oder unterhalb der Kirche begraben werden. Heutzutage lassen viele ihre Asche in Hain und Flur verstreuen. Was sagt das dem Trauerredner über den Menschen von heute? Er sei ein „überzeugter Friedhof-Verteidiger“, sagt Walter Müller. Er halte es für wichtig, dass es einen Platz gibt für Familie und Freunde „zum Erinnern gebündelt an einer Stelle“. Für ihn sei das noch immer „ein Friedhof mit einem Grabstein“.

Natürlich könne er auch andere Konzepte nachvollziehen: „Eine Familie lebt zerstreut in der ganzen Welt. Wer pflegt das Grab, zu dem ohnehin keiner kommt, wer trägt die Kosten für professionelle Grabpflege?“ Der Gedanke, dass da in Maria Plain unter einem Baum die Urne bestattet ist, habe auch etwas Trostvolles. Das Wesentliche, so Walter Müller, sei ein „Ort konzentrierten Gedenkens“. Tatsächlich könne es „von der emotionalen Seite her“ sogar einfacher sein, „unter einem Baum in der freien Natur, als in einer Trauerhalle oder an einem offenen Grab zu stehen“. Andere Formen der „Bestattung“ hält der Trauer-Redner für problematisch: „Die Asche gepresst zum Diamant in einen Ring gefasst, die Urne auf dem Kaminsims im Wohnzimmer – das ist eine Nähe, die hilft niemandem.“

Wie geht nun der Trauer-Redner vor, um in kurzer Zeit einen Verstorbenen quasi allein im Wort lebendig werden zu lassen? Auf ein erstes Telefonat, bei dem die Basics der Biografie erhoben würden, folge ein Treffen mit den Hinterbliebenen. Im Gespräch entwickle er „ein Gespür für die Familie.“ Danach gehe es – üblicherweise, dieser Tage verhindern es die Corona-Beschränkungen – ins Kaffeehaus, wo er auch sonst Gedanken und Ideen für die eigene literarische Arbeit festhalte. Die Mitschrift aus dem Gespräch mit der Trauerfamilie werde ergänzt und um eigene Recherchen erweitert. „Daheim am Computer werden die Texte getippt, um dann wieder in Kaffeehaus korrigiert zu werden.“ Danach geht der Text an seine Frau. „Sie sieht Sachen, die ich nicht sehe.“ Er stelle als Trauer-Redner höchste Ansprüche an sich selbst als Schriftsteller, betont Walter Müller: „Die Person muss in der Rede so lebendig und wahrhaftig da sein, wie nur möglich. Da muss wirklich jeder Satz ausgefeilt sein.“

Ein Trauer-Redner darf natürlich nicht weinen. Er muss professionelle Distanz wahren wie ein Arzt, Psychologe oder Pfarrer. „Das gelingt immer. Es muss gelingen“, sagt Walter Müller. Dennoch sei er bei der Musik manchmal auf der Hut, frage nach, was gespielt wird und wappne sich bei Bedarf vorab durch mehrmaliges Anhören bestimmter Stücke. Das können Lieder sein, „die eigentlich harmlos“, aber im Zusammenhang mit einer bestimmten Familie und einer bestimmten Situation emotionaler Sprengstoff sind. Müller erinnert sich an die Beerdigung eines jungen Behinderten, der gerne gesungen hat. „Sein Lieblingslied war Heile, heile Gänschen.“Da habe er sich, so Müller, beim ORF eine Einspielung besorgt und mindestens zehnmal angehört: „Das war auch nötig. Wie da in der Trauerhalle seine ganzen Freunde von der Lebenshilfe, schwerer und leichter Behinderte, Spastiker und Burschen mit Down Syndrom nach Kräften mitgesungen haben...“

Krise im Alltag? „Wir haben einen Balkon und können hinaus gehen. Wir haben eine wunderbare Haus-Nachbarschaft, die jungen Leute rufen an fragen, ob sie was für uns tun können. Um 18 Uhr stehen wir alle auf dem Balkon und applaudieren.“ Diese Solidaritätsbekundung nach Außen sei auch ein Nachschauen nach Innen geworden: „Sind alle da? Fehlt jemand? Soll man anrufen...“ Er hoffe, so Walter Müller, dass aus dieser „Nähe aus der Distanz“ etwas bleibt. Was ihm tatsächlich abgeht: „Ich würde gerne ins Kaffeehaus gehen.“

Bild: Peter Branner (1); dpk-klaba (2)
Im Mai erscheint ein neues Buch von Walter Müller: Alles ist so wie immer – nur du fehlst! Essays und Reden über das Leben und den Tod über Gott und die Welt. Tauriska Verlag, Neukirchen am Großvenediger 2020. 224 Seiten, 20 Euro