Ein brillanter Poet

STIFTUNG MOZARTEUM / MARC-ANDRÉ HAMELIN

15/06/16 Der Wiener Saal war am Abend des Fußball-EM-Matches Österreichs gegen Ungarn immerhin gut gefüllt. Der frankokanadische Pianist Marc-André Hamelin zählt ja auch zu den Großen seines Fachs und spielte ein abwechslungsreiches Programm zwischen Rarem und Populärem.

Von Gottfried Franz Kasparek

Wer seltene Klaviermusik der frühen Moderne sammelt, der kennt Hamelin besonders gut, etwa von seiner grandiosen Aufnahme des Busoni-Konzerts. Als wahrer Tastentiger und souveräner Virtuose, ja als „König der Busoni-Pianisten“ wird er bezeichnet. Doch schon das erste Stück des Abends überrascht, denn bei Maria Szymanowskas B-Dur-Notturno ist es weniger die Technik, sondern mehr die Fähigkeit, Phrasen poetisch zu erfassen und Musik wohlig verklingen zu lassen, die erfreut. Die polnische Romantikerin, die mit Goethe befreundet war und einer drückenden Ehe entflohen ist, hat in ihrem relativ kurzen Leben wundersame Klaviermusik geschrieben, Salonstücke der edelsten Art zwischen John Field und Chopin. Man sollte sie öfters aufs Programm setzen.

Marc-André Hamelin kann auch auf gediegenste Art Mozart spielen, was eine ernsthafte, klare Interpretation der D-Dur-Sonate KV 576 bewies. Doch dann stand Franz Schubert im Zentrum des Programms. Zunächst meißelte Hamelin Sergej Prokofjews „Walzer-Suite“ aus dem Steinway, ließ jedoch auch bei dieser etwas distanzierten Schubert-Huldigung sanftere Klänge nicht zu kurz kommen. Einer, der Schubert wahrhaft liebte, war Franz Liszt. Er liebte ihn so, dass er unter seinen Umarmungen mitunter fast erdrückt wurde. Der Walzer Nr. 9 aus den „Soirées de Vienne“ ist allerdings eine geschmackvolle Paraphrase. Liszt lässt der dunklen Melancholie des originalen „Trauerwalzers“ sensible Übermalungen angedeihen, die der Pianist mit Feingefühl zum Klingen bringt.

Feingefühl, das ist es, was Marc-André Hamelins Schubert-Spiel nach der Pause auszeichnet, und ein hellwacher Sinn für Transparenz und Klangfarben. Die Impromptus D 935, in denen eine Salon-Form zur Ausdruckskunst wird, hat man selten so klar durchgestaltet erlebt. Dabei verliert sich Hamelin nicht in bloßer Analytik, sondern findet zu berührender Tiefe, vor allem dann, wenn die Musik zu verstummen droht und sich aus leiser Verstörung wieder zu heiterer Gebärde entwickelt. Man muss nicht wie Schumann in den vier Stücken eine verkappte Sonate vermuten, aber in dieser nahezu pausenlosen Interpretation wird der Werkkomplex fast zu einer symphonischen Dichtung für Klavier – deren Handlung man sich selbst ausmalen kann.

Der Jubel des Publikums wurde mit drei famosen Encores belohnt. Wenn Liszt eines der herrlichen polnischen Lieder Chopins mit pianistischen Kaskaden versieht, wenn Joseph Haydn mitreißende Motorik erfindet und gar, wenn ein Gershwin-Song in swingender Bearbeitung erklingt – dann ist der Zugaben-Himmel perfekt.

Bild: www.marcandrehamelin.com / Fran Kaufman