Nicht 639 Jahre, dafür 840 mal

HINTERGRUND / MARATHON-KONZERT / VEXATIONS

14/04/23 639 Jahre dauert das längste Musikstück aller Zeiten: As Slow As Possible von John Cage erklingt seit 2001 in der Klosterkirche von Halberstadt. Wenn ein Tonwechsel auf der John Cage-Orgel ansteht (am 5. Februar 2024 ist es wieder soweit) rücken Politiker und Journalisten aus. Dagegen ist ein 24-Stunden-Klavierstück fast schon ein Husch: Am Mozarteum erklingen die Vexations Quälereien  von Erik Satie.

Von Heidemarie Klabacher

Als Igor Levit die Vexations Ende Mai 2020 im Rahmen seiner „Corona-Wachen“ in Berlin spielte, war der Notenstapel auf dem Klavier gut zwanzig Zentimeter hoch – obwohl das eigentliche musikalische Material – drei Notenzeilen – locker auf ein halbes Blatt Papier passt: Levit hatte sich die einzelnen 840 Variationen ausgedruckt. Jedes abgespielte Blatt flatterte zu Boden, der alsbald weiß bedeckt war. Als der Pianist nach gut 16 Stunden das letzte Blatt vom Klavier nahm, den Deckel schloss und sich für ein paar Sekunden darüber lehnte, war das ein verstörender Augenblick. Verstören – das wollte der Meister ja tatsächlich. Auf die Notlage der Musiker angesichts der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie aufmerksam machen. „Diese Zeit, sie ist für uns Künstler brutal – körperlich, mental, emotional. Und deswegen, glaube ich, passt dieses Werk so gut: um die Aufmerksamkeit auf den Zustand zu richten, in dem wir uns befinden“, sagte Levit im Vorfeld. Für ihn seien die Vexations ein Rückzug in Stille und Bescheidenheit. „It reflects a feeling of resistance“, so Igor Levit.

Der belastende Corona-Hintergrund ist inzwischen zum Glück verblasst. Wenn von Dienstag 18. bis Mittwoch 19. April von zwölf Uhr Mittag bis zwölf Uhr Mittag die Vexations am Mozarteum erklingen werden, darf man auf einen ganz anderen Zugang gespannt sein. „Das Stück besteht aus einem zweizeiligen Motiv mit 17 Akkorden und ist 840 Mal zu wiederholen. Durch dieses perpetuum mobile entsteht etwas Tranceartiges, das sich über einen ganzen Tag erfahren lässt und auf die Entgrenzung von Zeit abzielt.“ Yvonne Wasserloos, Musikwissenschaftlerin Universität Salzburg und Universität Mozarteum, und ihr Kollege, der Musikpädagoge Oliver Krämer von der Hochschule für Musik und Theater Rostock leiten gemeinsam das hochschulübergreifende internationale Seminars Long Play.

Die Studentinnen und Studenten dieser Lehrveranstaltung spielen selber mit, leiten aber auch durch den Marathon: Das Konzert ist als offene Veranstaltung konzipiert: „Studierende, Lehrende und alle Interessierten sind eingeladen, einige der Wiederholungen zu übernehmen und an der rund 24 Stunden dauernden Aufführung spielend teilzunehmen.“ Die Angaben zur tatsächlichen Gesamspielzeit variieren, hängen aber wohl auch vom „Tempo“ ab. Nur zuhören ist natürlich auch OK. Wichtig ist den Verantwortlichen der offene Zugang, „ein Kommen und Gehen jederzeit“.

Erik Satie komponierte 1893 mit seinen Vexations ein frühes Werk der minimal music, die sich erst in den 1960er Jahren durchsetzen sollte. Ganz kurz Wikipedia: Vexations wurde erst 1949 in Druckform veröffentlicht, also lange nach dem Tod des Komponisten (1866-1925). Die Bekanntheit des Stücks ist weitgehend dem Interesse zu verdanken, das John Cage daran hatte, der ähnliche Experimente in Bezug auf ungewöhnliche Arrangementstrukturen Mitte des 20. Jahrhunderts verfolgte. Auch in der Szene rund um die serielle Musik wurde Vexations beachtet, zum Teil wird es wegen seiner Tonreihen als Vorläufer dieser Bewegung angesehen. Am 9. September 1963 wurde das Werk von einem Team mehrerer Pianisten, darunter Cage selbst, uraufgeführt. Nur eine einzige Person war von Anfang bis Ende des Stücks, das 18 Stunden und 40 Minuten (von 18 Uhr bis 12.40 Uhr am Tag danach) dauerte, anwesend.“ 

Nach der Uraufführung versuchten sich zahlreiche weitere Pianisten an der Herausforderung durch Vexations. Die Aufführungsdauer betrug je nach Interpretation der Anweisungen Saties zwischen 12 und 28 Stunden. Viele Aufführungen des Stückes gelangen nur durch Mithilfe mehrerer Pianisten, aber auch einzelnen Spielern gelangen komplette Darbietungen (unter anderem Nicolas Horvath). Im Jahr 2016 führten Dozenten, Studierende und Freunde der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf das Werk zum 150. Geburtstag des Komponisten auf. Nun also eine weitere Gesamtaufführung am Mozarteum!

Vexations von Eric Sati – Dienstag (18.4.) 12 Uhr bis Mittwoch (19.4.) 12 Uhr im Solitär der Universität Mozarteum – Eintritt frei, keine Pause – www.moz.ac.at
Bilder: UniMoz; Wikipedia (2)