… ob ich noch ernst sein darf oder schon scherzen muss

LITERATURHAUS / LESUNG MARTYNOVA

15/04/11 Im Grunde ist Olga Martynovas Roman ja eine Liebesgeschichte: Als der Eiserne Vorhang Ost und West noch trennte, „in einer nicht mehr existierenden Welt“, hatten sich die St. Petersburgerin Marina und der deutsche Austauschstudent Andreas kennen gelernt – doch schien damals alles „zu kompliziert“. Zwanzig Jahre später ist Andreas ergraut und doch kommt sie wieder, die „Zeit eines idiotischen Lächelns des Verliebtseins“.

Von Harald Gschwandtner

Mit einer Lesung der russischen Autorin Olga Martynova, die ihren ersten Roman, „Sogar Papageien überleben uns“, auf Deutsch verfasst hat, fand am Donnerstag (14.04.) der Schwerpunkt „Familienmuster/Kindheitswelten“ im Literaturhaus seine Fortsetzung.

Die Vergangenheit und das Bewusstsein der zeitlichen Distanz sind es auch, die im Zentrum dieses virtuosen wie kleinteiligen Romans stehen. Aus narrativen Miniaturen setzt sich der präzise komponierte Text zusammen, aus Alltagsbetrachtungen und Gesprächen entsteht im Kleinen eine Welt, die den Zusammenbruch des Kommunismus spiegelt und kommentiert.

„Das ist nun ihre Unabhängigkeit, all diese großen Worte; man denkt, es geht um Meinungsfreiheit, um Kultur, um Gewissen. Nein, um Massenwaren geht’s, zu denen sie endlich zugelassen werden!“, weiß der Sinologe Pawel zu berichten. Kritisch reflektieren die Protagonisten in mehreren Zeitschichten die öffentlichen Erzählungen von Russlands glorreichen Neuanfängen: nach dem Zarenreich und nach der Sowjetunion. Dabei setzt sich der Roman über Konventionen der Zuschreibung und Verhandlung von kultureller Differenz hinweg: In der Darstellung privaten Erlebens und Erinnerns zeigt sich das Gespür der Autorin für die Bruchlinien eines kulturellen Selbstverständnisses ebenso wie in Metaphern, die den weltgeschichtlichen Zusammenhang in den Blick rücken. So im Bild der Luftballons, die man nach dem Ende der Sowjetunion in St. Petersburg steigen ließ und die schon „eine gewisse Neigung zum Sinkflug aufwiesen – – –“.

Außerdem ist „Sogar Papageien überleben uns“ gerade auch eine Geschichte von widersprüchlicher Erinnerung und Beschuldigung – von den Stereotypen und abgrundtiefen Idiosynkrasien, die sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Russen und Deutschen aufgebaut haben. In kleinen Episoden lässt Martynova Figuren aufeinander treffen, die die neuralgischen Punkte einer konfliktgeladenen ‚Kontaktgeschichte‘ im privaten Raum durchspielen. Doch niemals mit jenem moralischen Zeigegestus, der literarischen Analysen des Politischen mitunter anhaftet.

Behutsam erzählend schafft es die Autorin, dass hier statt eines ideologischen Zerrbildes ein Zeitbild aufscheint und sich in seinem Understatement umso nachhaltiger in die Leser und Leserinnen einschreibt. Etwa in jener Episode, in der ein deutsches Ehepaar „aus dem hiesigen Adel“ der russischen Dozentin mit quasi-imperialistischer rhetorischer Gebärde gegenübertritt und ihr ein nationales Kompliment machen will: „Ihre Putzfrau sei eine Russin, eine ausgesprochen fleißige Frau!“

Große poetische Bilder, wie jenes von den Bauern, deren Weinreben wie eine Schrift zu lesen sind, wechseln sich ab mit oft launigen Erzählungen aus dem Dichter- und Philologenmilieu. Der Lyriker Fjodor, aus dessen Gedichten immer wieder zitiert wird, erweist sich als wichtiger Konversationspartner für die Protagonistin, Daniil Charms und die russische Avantgarde als zentrale literaturgeschichtliche Referenzpunkte. Überhaupt schöpft die Autorin aus einem ungemein reichen Schatz an Anspielungen und intermedialen wie interkulturellen Ko(n)texten, in den die Slawistin Eva Hausbacher an diesem Abend kundig einzuführen verstand.

Zwischen einer Heiterkeit, die manche schwarzhumorige Blüte treibt, und einem liebevollen Ernst oszilliert der Duktus dieses Romans – oder wie Marina ausführt: „Die Alten scherzen und lachen und machen sich lustig über einander. Die jungen Autoren sind ernst und höflich. Und ich zwischen ‚alt‘ und ‚jung‘ und weiß nicht, ob ich noch ernst sein darf oder schon scherzen muss.“ In diesem ‚Übergangsstadium‘ scheint sich auch Martynovas Debüt zu bewegen – und gerade das macht auch den Charme dieses Romans aus.

Mit „Sogar Papageien überleben uns“ – der Titel ein Joseph-Roth-Zitat – liegt ein bilderreicher wie erzähltechnisch gefinkelt konstruierter Text vor, der mit sanftem Humor und einem unkonventionellen Zugriff auf einen großen zeitgeschichtlichen Umbruch zu überzeugen weiß. Ein Buch, das, so bleibt zu hoffen, wohl auch manchen Papagei überleben wird.

Bild: Yves Noir