Subkutane Brutalität. Gewalt in ihren Faltungen

RAURISER LITERATURTAGE / KAISER-MÜHLECKER / KRECHEL

03/04/23 Mit Reinhard Kaiser-Mühlecker und Ursula Krechel paarten die Intendanten Ines Schütz und Manfred Mittermayer ein ungewöhnliches Duo für die Doppel-Lesung im Mesnerhaus. Nach und nach stellen sich doch auch einige Gemeinsamkeiten in den Texten. Etwa das Thema Gewalt in verschiedenen Facetten.

Von Evelyn Innerbichler

Er liest, Kaiser-Mühlecker liest, als würde er die Worte in diesem Moment erst auf die Seiten schreiben, manchmal weiß ich nicht, ob er die Figur liest oder zu sich selbst spricht. Diese Intimität kann auch der plötzlich einsetzende Platzregen, der auf die Fenster und Dächer knallt, nicht brechen, nur vereinzelte Blicke wenden sich nach draußen. „Das Bild eines 13-jährigen, der mit sich selbst russisches Roulette spielt, hat mich lange beschäftigt“, sagt der Autor. Es habe ihn schon damals beschäftigt, als er den Roman Fremde Seele, dunkler Wald geschrieben hat. „Ich habe dieses Bild aus den Augen verloren und fünf Jahre später ist mir aufgefallen, dass ich vergessen habe, diese Geschichte zu schreiben.“ Die erste Lesung bestreitet Reinhard Kaiser-Mühlecker, der mit Manfred Mittermayer über den deutschen Buchpreis 2022 nominierten Roman Der Wilderer spricht und aus daraus liest.

In dem Protagonisten Jakob hockt eine subkutane Brutalität, die immer wieder aufblitzt. „Der Mond bleibt nicht immer hinter der Wolke“ ist ein persisches Sprichwort, das Kaiser-Mühlecker als Zitat vor seinen Roman stellt, eine Art Versprechen, das im Laufe des Romans widerhallt. Als ein „leeres langweiliges Geräusch“ wird das Klacken des Revolvers an der Schläfe des Protagonisten beschrieben, als „Geräusch seines Lebens“. Das Spielen des Russischen Roulettes wird von Jakob, der den Hof seiner Eltern führt, schon seit seiner Jugend betrieben. Sprache sei „eine Art des Umgehens mit Gewalt, auch mit der Gewalt von Emotionen ist“, erklärt der Autor. „Dinge zu formulieren, das hat Jakob nie gemacht, er kann auf Dinge zeigen, sie benennen, aber mehr nicht.“ „Ja“ sagt Jakob oft, auf Vieles, auf Fragen, auf Vorschläge, auf jegliche Art der Kommunikations-Aufforderung. Auch dieses „Ja“ ist Ausdruck von Sprachmangel, „Ja“ sagt Jakob auch darauf, dass Katja, Künstlerin und Fremde in Jakobs Welt, ihn darauf hinweist, dass er sie nicht zurückgeliked hat auf einer Datingplattform. Ein Praktikum auf seinem Hof macht sie dann trotzdem und so entfaltet sich auch eine Liebesgeschichte.

„Auch Liebe kann Wilderei sein“, sagte der Autor in dem Gespräch mit Studierenden der Universität Graz, das am Freitag (31.3.) stattgefunden hat, über den Titel des Romans. „Und die Liebe wird auch Wilderei“, so Manfred Mittermayer. „Das ist auch ins Leben eines anderen einzudringen und Spuren zu hinterlassen.“

Halt’s Maul“ ist nicht der Titel von Ursula Krechels Erzählung, sondern Der Übergriff. „Halt’s Maul“ ist aber die Bewegung, gegen die sich die Protagonistin stemmen muss und will. Die Stimme, die ihr immer wieder über den Mund fährt, wenn sie sprechen will, ist gewöhnlich laut. Und sie ist nur in ihrem Ohr. Sie überlegt, ob sie den Mund nur noch „zum Essen, zum Küssen und zum Staunen“ benutzen soll... Die lyrischen Gesten Ursula Krechels sind auch in ihrer Prosa spürbar. „So unverständlich ist der Text doch gar nicht“, sagt Ursula Krechel, als die Intendantin Ines Schütz sie zu den ersten Reaktionen fragt. Die ersten Reaktionen kamen bereits 2001, als die Erzählung zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Jetzt aber, überarbeitet und neu aufgelegt, scheint das Buch in die genau richtige Zeit gefallen zu sein. Gewalt, die sich in all ihren Faltungen, den tiefen, den oberflächlichen zeigt und das stumme Staunen ihr gegenüber. Bei Krechel ist Sprache eine Möglichkeit, mit Gewalt umzugehen. Die Protagonistin schreibt und beschreibt ihre Umwelt  und wenn sie ihr Geschriebenes liest, kommt die Stimme „Halt’s Maul“. Aber den Mund lässt sie sich nicht verbieten, es ist ja nur gelesen, nicht gesprochen.

Die Erzählung von Ursula Krechel erweist sich als höchst aktuelles Werk, beinahe prophetisch. Die Architektur von Gewalt, die die Welt der Erzählung gestaltet, wird kontinuierlich vom Allgemeinen ins Besondere und wieder zurück verschoben. Krechel sagt über sich selbst, dass sie eine gute Leserin der Wirtschaftsseiten der FAZ sei. Daher behandle die Erzählung die, wie gesagt bereits 2001 erschien, auch das Labyrinth aus Gaspipelines, das unter unseren Füßen wächst und sich als „unheimliche Energie“ durch das Buch zieht.

Bilder: RLT / David Sailer
Die Rauriser Literaturtage sind am Sonntag (2.4.) zuende gegangen – www.rauriser-literaturtage.at
Für DrehPunktKultur berichteten Studentinnen und Studenten von Clemens Peck im Rahmen der Lehrveranstaltung „Literaturbetrieb und literarisches Leben in Österreich (Rauriser Literaturtage 2023)“ am Fachbereich Germanistik von den Rauriser Literaturtagen