Zwischen den Geleisen
LESEPROBE / HANNAS SCHLAFENDE HUNDE
31/03/16 „Das Buch zum Film“, steht auf den neuesten Exemplaren – der dritten Auflage schon – von Elisabeth Eschers Roman „Hannas schlafende Hunde“. Das in der Edition Tandem erschienene Buch wurde verfilmt und ist ab morgen Freitag (1.4.) auch im Salzburger Filmkulturzentrum „Das Kino“ zu sehen. - Hier eine Leseprobe aus dem Roman.
Von Elisabeth Escher
Es duftet nach Heckenrosen, nach den zartrosa Blüten der stacheligen Büsche, die den Weg von der Wohnung bis zur Kirche säumen.
Früh am Nachmittag ist es noch, die Maisonne steht hoch über ihnen.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem das Mädchen und die Großmutter nicht um diese Zeit den Weg an der Kirche vorbei zu dem nahen Güterbahnhof zurücklegen.
Die Kinderhand liegt wie immer in jener der Alten, der Blick des Mädchens tastet die Unebenheiten des Bodens ab.
Die alte Frau hört dem Kind an ihrer Seite aufmerksam zu. Die Sonne hat ihre weißen Haare zum Leuchten gebracht, die Lippen kräuselt ein Lächeln.
„So viel Löwenzahn! Lauter Sonnen mitten im Gras!“, ruft Hanna aus, und ohne die Hand in der ihren loszulassen, bückt sie sich, pflückt eine der Blumen, zupft die Blüte ab und legt sie der Großmutter in die freie Hand. „Ist die nicht schön?“
Die Frau befühlt das pelzigweiche Gelb.
„Ja, wunderschön. Der Mai hat doch die lebendigsten Farben des Jahres. Noch so jung und voller Erwartung, wie deine Augen, Hanna!“, sagt sie.
Hannas Blick gleitet unwillkürlich aufwärts zu den Augen der Großmutter, die gar nicht so viel anders aussehen als die Augen sehender Menschen. Nur ein trüber Schleier liegt über ihnen. Doch die Pupillen darunter wandern unbeirrt umher, mitunter vielleicht sogar lebhafter als die sehender Menschen.
Früher, das hat ihr die Großmutter erzählt, vor dem Krieg, als alles anders war, da konnte auch sie ganz scharf, ganz weit sehen, genauso wie Hanna.
Doch seit damals blicken ihre Augen nicht mehr in die Welt hinaus.
Damals: Im Damals versteckt sich das Geheimnis. Dunkel muss es sein, dieses Unaussprechliche, so viel ahnt Hanna, denn undurchsichtig wird der Blick der Mutter und trüber noch werden die blinden Augen der Großmutter, wenn das Kind nach dem Damals fragt.
Was ist mit den Geschwistern der Großmutter geschehen? Vier Brüder habe sie gehabt, hat ihr die Mutter einmal erzählt, aber ... Aber. Alles scheint mit diesem Aber zu enden. Nichts führt zu jenem Ort, an dem vielleicht auch die Antwort zu finden wäre, warum es damals, als Großmutters Augen so krank wurden, keinen Arzt für sie gab. Fragen über Fragen, auf die niemand dem Mädchen eine Antwort geben will, nicht die Mutter, nicht die Großmutter. Schon gar nicht der Vater. Der scheint mit diesem Damals nichts zu tun zu haben.
Großmutters Augen blicken nach innen, denkt Hanna, sie sehen direkt in den Kopf hinein. Die ganze Welt muss hinter diesen blinden Augen Platz finden!
Hanna hat natürlich immer wieder einmal versucht, wie die Großmutter auch nach innen anstatt nur nach außen zu schauen, aber es ist ihr niemals geglückt.
„Zwei offene Fenster sind eben zu viel für einen Kopf“, hat die Großmutter dann lächelnd erklärt.
Die Schritte der beiden sind langsamer geworden. Hanna genießt den Weg entlang der Gleise. Züge sind voller Rätsel, allein die heißen Schienen zu befühlen, das Heranrollen eines Zuges erst zu erahnen und ihm dann nachzusehen, bis er immer kleiner wird und sich im Horizont verliert, ist ein Abenteuer.
Hanna ist auch längst daran gewöhnt, dass sich der Handdruck der Großmutter ein jedes Mal verstärkt, sobald sich ein Zug nähert, dass ihr Atem zu flattern beginnt und sich erst wieder glättet, wenn sie gefragt hat: „Sieht man hinein?“, und das Mädchen geantwortet hat: „Ja, der Zug hat Fenster, man kann die Leute sehen.“