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Babuschka

LESEPROBE / CAROLINA SCHUTTI

15/04/15 „Fang einfach an, sagte Maja, so viele erste Sätze.“ Diese unprätentiöse Auffürderung stellt Carolina Schutti dem ersten Kapitel ihres Romans „Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein“ voran.

Von Carolina Schutti

Es heißt nicht Babuschka, sondern Matrjoschka, sagte meine Großtante, die einzige Tante meines Vaters, dabei konnte sie gar kein Russisch. Sie hatte wohl recht, aber ich glaubte ihr nicht. Ich hatte meine Babuschka immer schon so genannt und sie vorsichtig geschüttelt und auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt und die kleinste genau untersucht, ob sie sich nicht auch öffnen ließe wie die anderen, durch einen geheimen Mechanismus, denn ich hatte nicht glauben können, irgendwann bei der letzten angekommen zu sein.

Nachts war ich oft wachgelegen und hatte meine Augen im Zimmer umherschweifen lassen, und ich hatte der großen Babuschka erzählt, wie das Haus von außen aussah und der Garten, das in die Breite gezogene Dorf, der Schatten, der sich mehr als das halbe Jahr auf den Großteil der Häuser legte. Vom Tal mit seinen waldigen Hängen erzählte ich, vom Nachthimmel, der sich fest darüber spannte. Es hatte mir Angst gemacht, dass mir niemand sagen konnte, was dahinter war. Aber vielleicht musste man nur die richtige Frage stellen, um eine Antwort zu erhalten. Die Babuschka schaute mich an mit ihren großen Augen und ich machte sie auf und nahm das kleinste Püppchen heraus, legte es zart in meine Hand, wiegte es hin und her, staunte, wie erwachsen es aussah.

Meine Babuschka war verloren gegangen, so machte man mich glauben, aber das war unmöglich. Ich hatte sie niemals mit nach draußen genommen. Vielleicht hatte meine Tante beschlossen, dass ich zu groß sei für Puppen und sie eines Tages auf dem Dachboden versteckt oder weggeworfen, vielleicht hatte sie das Gemurmel, das allabendlich aus meinem Zimmer drang, für beunruhigend gehalten. Ich habe nie gefragt.

Ich erzählte Marek von der Babuschka und er strich mir das Haar hinters Ohr und küsste mich auf die Stirn. Moje kochanie, flüsterte er, und ich wusste, was das hieß, wenn ich auch kein Polnisch konnte und das Weißrussisch meiner ersten Jahre verloren gegangen war wie die Babuschka.

Marek hatte ein kleines Holzhaus mit einem verwilderten Garten. Er bot dem alten Walter Geld für die Gartenarbeit, aber mehr als ein paar Äste entfernte er nicht und Mähen war nicht möglich, da beim Zaun und um das Haus herum zu viel Gebüsch wucherte, so sagte Walter jedenfalls. Er ließ das Gebüsch stehen und kaufte sich Schnaps.

Marek trank keinen Schnaps, er trank nie. Trotzdem waren seine Augen manchmal rot, wenn er am Fenster saß und hinausschaute.

Sie seien nicht nacheinander gestorben, wie es sich gehört, hatte mir Marek einmal erzählt, sondern zuerst der Onkel, dann die Großmutter, dann starb Micha, sein Lieblingsneffe, er erhängte sich an einem Baum, an dem Baum, den der Großvater für den Onkel gepflanzt hatte. Über Mutter und Vater sprach er nicht, aber jeder wusste, was passiert war, nur hatte niemand eine Erklärung dafür, warum Marek als junger Mann ausgerechnet in dieses Dorf gezogen, warum er nach dem Krieg nicht nach Hause zurückgekehrt war.

Vergiss das alles wieder, hatte Marek dann gesagt und sich über die Augen gewischt, vergiss es. Ich habe es trotzdem nicht vergessen und fragte meine Tante, ob sie mir etwas über Marek sagen könne. Die Schattenseite ist schlecht, antwortete sie, und setzte nach, was mich das angehe. Ich fragte, warum stehen hier überhaupt Häuser, wenn die Schattenseite so schlecht ist, doch darauf bekam ich keine Antwort.

Der Schnee kam früh und blieb lang, im Hochsommer musste man sich schon um vier eine Wolljacke holen, wenn man draußen spielen wollte. Im Garten wuchsen nur Minze und Kamille, Schnittlauch und Dill. Das Gras, wenn man barfuß darüberlief, stach einem in die Fußsohlen, doch ich konnte mir weiches Gras gar nicht vorstellen. Oder nicht mehr. Als kleines Kind nämlich muss ich über weiches Gras gelaufen sein, ein Mal zumindest, denn nach Jahren gab mir die Tante ein Foto, das mich mit meiner Mutter in einem Park zeigte. Ich hatte ein kurzes, weißes Kleidchen an mit gestickten Blumen und einer handgekettelten Borte am Kragen, meine Mutter hatte mich an der Hand gefasst, lachte in die Kamera und hielt nicht still für das Foto, der Arm war so unscharf wie ihr Gesicht. Wir standen barfuß im Gras, ich sah verunsichert aus, meine Augen weit aufgerissen, meine Lippen ein offener Spalt.

Meine Tante wollte nicht, dass ich Marek besuchte, ich solle lieber mit den anderen Mädchen spielen, meinte sie. Oft tat ich so, als hätte ich den ganzen Nachmittag lang Fangen gespielt und Gummihüpfen, ich kniete mich auf dem Nachhauseweg in die Wiese und strich mit den Handflächen über feuchte Erde. Manchmal, wenn genug Zeit war, legte ich mich ins Gras und sah mir die Wolken an, die sich rosarot färbten, und wenn das Licht es zuließ, konnte ich unzählige kleine Insekten beobachten, die den Himmel bevölkerten und die Luft unruhig machten.

Es stimmt nicht, dass ich mich in ein Insekt verwandeln wollte und davonfliegen, denn ich wäre nicht weit gekommen. Und Tier wollte ich auch keines sein, obwohl es damals dazugehörte, ein Lieblingstier zu haben und alles darüber zu wissen.

Carolina Schutti: Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein. Roman. Otto Müller Verlag Salzburg 2012. 144 Seiten, 18 Euro – www.omvs.at
Zum Porträt über die Autorin Nichts passiert ohne Hintersinn

 

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