Jede Kerbe ein Mensch

LESEPROBE / LITERATURFEST / DIRK KURBJUWEIT

20/05/14 Der Krieg ist der Vater vieler Bücher und auch eines der Themen beim „Literaturfest Salzburg“. Das Booklet zum Festival versammelt unter dem Motto „Konflikt und Versöhnung“ Texte von Autorinnen und Autoren, die von 21. bis 25. Mai in Salzburg zu Gast sind. Zu ihnen gehört der Spiegel-Korrespondent und Schriftsteller Dirk Kurbjuweit. Für seine Reportagen erhielt  er u.a. den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Zuletzt erschienen seine Romane Kriegsbraut (2011) und Angst (2012). Kurbjuweit spricht mit dem Moderator Denis Scheck und der Schriftstellerin Marie-Luise Scherer am Donnerstag (22.5.) über literarische Reportagen. – Hier sein Booklet-Text „Der Österreicher“.

Von Dirk Kurbjuweit

472Krieg verbinde ich mit Österreich, besser gesagt: mit einem Österreicher. Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt habe, ist eine der Ambivalenz des Kriegers. Seinen Namen kenne ich nicht. Er hat ihn mir nicht gesagt. Er hat ein großes Geheimnis um seine Person gemacht. Er sagte nicht, aus welcher Stadt er kam oder wie sein Leben vor der Fremdenlegion gewesen war. Er erzählte nur vom Krieg.

Ich traf ihn 1993 am Rand von Mogadischu. Damals herrschte dort Bürgerkrieg, es war die gefährlichste Stadt der Welt. Es war die Zeit, die Ridley Scott später in seinem Film „Black Hawk Down“ einfing. Milizen schossen aufeinander und schossen auf die Amerikaner. Der Tod war leicht zu haben.

Somalia war der erste größere Auslandseinsatz der deutschen Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin Journalist und begleitete einen jungen Soldaten auf seinem Weg dorthin, er hatte den Spitznamen Lacky und war Fahrer in einer Einheit, die Wasser transportierte. Das Feldlager der Deutschen lag in Belet Huen, einer ruhigen Region im Norden. Eines Tages hieß es, die Schiffe mit den Tanklastern seien eingetroffen. Lacky und seine Einheit wurden mit einem russischen Hubschrauber nach Mogadischu geflogen. Ich flog mit. Ein Schützenpanzer brachte uns vom Flugfeld zum Hafen am Rand der Stadt.

Wir mussten noch warten und sollten die Nacht in einer Halle verbringen. Dort schliefen Soldaten aus vielen Ländern, Amerikaner, Briten, Italiener, Franzosen und Fremdenlegionäre, die Frankreich dienten. Einer von denen war der Österreicher. Er sprach mich an, weil ich der Einzige war, der zivile Kleidung trug. Was ich hier wolle, fragte er, nicht unfreundlich, neugierig. Er war blond, nicht groß, nicht schwer, sehr drahtig. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, seine Augen strahlten blau, doch da war nichts Offenes, Freundliches in seinem Gesicht, eher etwas Hinterhältiges, Ruchloses. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, weil mir die Fremdenlegion unheimlich war. Ich hatte von Anfang an Angst vor ihm.

Wir saßen auf seinem Feldbett, er hatte sein Gewehr über seine Knie gelegt und erzählte Geschichten vom Krieg. Er hatte in Afrika gekämpft, und was er erzählte, war so grausam, dass mir schlecht wurde. Zerfetzte Menschen, zerstückelte Menschen, geköpfte Menschen, entmannte Menschen. Er grinste viel. Er zeigte mir die Kerben in seinem Gewehr, 22, jede Kerbe ein Mensch. Ich weiß, dass das nach einem Klischee klingt, aber es war so. Ich fand ihn widerlich. Nach einer Stunde ging ich mit einer Ausrede davon.

Es war gegen 22 Uhr, ich saß mit den deutschen Soldaten zusammen, als draußen Schüsse fielen. „Attack“, schrie jemand, „out, out.“ Die Soldaten griffen nach ihren Gewehren und stürmten nach draußen. Die ersten waren die Fremdenlegionäre, die nicht eine Sekunde zögerten.

Den Deutschen wurde befohlen, die Splitterschutzwesten anzuziehen, die Helme aufzusetzen und sich auf ihre Feldbetten zu legen. Es war peinlich, aber es war so. Die Bundeswehr sollte damals unter keinen Umständen kämpfen, weil die Politiker sich nicht sicher waren, ob unser Grundgesetz dies zulässt. Wir lagen da, starrten an die Decke und hörten heftige Schusswechsel. Ich dachte an den Österreicher, den ich als Killer kennengelernt und verabscheut hatte, und nun hoffte ich, dass er sich als Killer bewähren würde, zu meinem Schutz.

Nach einer halben Stunde war die Schießerei vorbei. Die Soldaten kehrten in die Halle zurück, niemand war verletzt. Ich konnte lange nicht schlafen, und später sah ich, dass am Bett des Österreichers eine Taschenlampe leuchtete, und ich richtete mich auf, um zu sehen, ob er eine weitere Kerbe in sein Gewehr schnitzte, aber er las in einem Buch.

Mit freundlicher Genehmigung des Literaturfestes Salzburg und des Autors

Dirk Kurbjuweit und Marie-Luise Scherer sind am Donnerstag (22.5.)um 19.30 in den Kavernen 1595 zu Gast beim Literaturfest Salzburg. Sie lesen aus ihren Werken und sprechen mit Denis Scheck vom Deutschlandradio über die Kunst der Reportage - In Kooperation mit dem Verein Literaturhaus - Das Booklet erhalten Sie bei allen Veranstaltungen des Literaturfestes - www.literaturfest-salzburg.at
Bild: LFS/Maurice Weiss