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Vom Jetzt und von der Ewigkeit

LESEPROBE / JOSIPOVICI / HINTERHÄUSER / UNENDLICHKEIT

12/08/12 Da schreibt einer einen Roman, für deren Hauptfigur Giacinto Scelsi Pate gestanden ist, der Aristokrat unter den Komponisten, der abgehoben und abgeschottet von der Welt in seinem Schloss hochelitäre Sphärenmusik schreibt (oder noch schlimmer von dienstbaren Geistern schreiben lässt). Als Übersetzer des Buchs von Gabriel Josipovici wählte der Verleger Jochen Jung einen, der Scelsi kennt: Markus Hinterhäuser. Scelsi galt einer der "Kontinente" Hinterhäusers. Der vorigjährige Festspielintendant und langjährige Konzertchef wurde übrigens wie Scelsi in La Spezia geboren. - Hier eine Leseprobe.

Von Gabriel Josipovici / Übersetzung Markus Hinterhäuser

altWissen Sie, mein Herr, Mr. Pavone gehörte zu einer ganz anderen Kategorie als die Herren, die Ihnen vielleicht geläufig sind. In erster Linie war er Sizilianer, verstehen Sie? Und sizilianische Signori, sizilianische Adlige, Mr. Pavone war nämlich ein Adliger, wissen Sie, mein Herr, der Abkömmling einer sehr adligen Familie, sizilianische Adlige sind ein ganz eigener Menschenschlag. Und darüber hinaus war er Künstler. Sie wissen, dass Künstler von Gott berufen sind, und dass sie, wenn ich so sagen darf, genauso seine Diener sind wie der Papst höchstpersönlich. Aber vor allem war er er selbst.
Was meinen Sie damit, er war er selbst?
Er war er selbst. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.
Aber ist nicht jeder von uns er selbst?
Nein, mein Herr, wenn ich so sagen darf, mein Herr. Nicht auf diese Weise.Auf welche Weise?
Er war einzigartig.
In welcher Weise war er einzigartig?
In jeder Weise.
Können Sie mir ein Beispiel geben?
Er war es in jeder Weise. Ich habe niemals, in meinem ganzen Leben habe ich niemals einen Herrn wie ihn getroffen, und, wie Sie sehen, bin ich nicht mehr jung.
War es seine Erscheinung, die ungewöhnlich war, oder war es etwas anderes?
Nicht ungewöhnlich, mein Herr. Nein. Nicht ungewöhnlich.
Aber Sie sagten einzigartig.
Einzigartig, aber nicht ungewöhnlich. (...)

Jeder Klang ist eine Sphäre, sagte er. Er ist eine Sphäre, Massimo, und jede Sphäre hat ein Zentrum. Das Zentrum des Klangs ist das Herz des Klangs. Man muss immer danach streben, in das Herz des Klangs zu gelangen, sagte er. Wenn man das erreicht, ist man ein wirklicher Musiker. Ansonsten ist man ein Handwerker. Ein Handwerker zu sein, ist absolut ehrenwert, Massimo, sagte er. Sogar ein Musik-Handwerker zu sein ist ehrenwert. Aber es darf nicht damit verwechselt werden, was es bedeutet, ein Musiker zu sein. Ein Musiker ist kein Handwerker, sagte er. Er ist ein Mittler. Das ist etwas vollkommen anderes. Eine vollkommen andere Art, Musik zu verstehen und eine vollkommen andere Art, uns selbst zu verstehen. Eine vollkommen andere Art. Wenn man den Unterschied zwischen einem Handwerk und einer Bestimmung nicht kennt, sagte er, weiß man nicht, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. Heutzutage, sagte er, wissen nur sehr wenige, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. Sehr wenige Künstler wissen, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. Sie wollen fotografiert werden und ihre Nasen herzeigen. Aber wir alle haben Nasen, sagte er, und nur wenige sind Künstler. Wirkliche Künstler. Sie wollen ihr Profil herzeigen und den Zeitungen erzählen, wie großartig sie sind. Aber sie sind nicht großartig, sie sind nur Menschen, und sie sind schlimmer als die meisten Menschen, weil sie ihre Talente prostituieren. Das ist es, was er sagte. Ihre Talente prostituieren. Wenn sie denn überhaupt irgendwelche Talente hätten, sagte er. Meistens haben sie gar keine Talente, sondern nur das Verlangen, ihr Profil herzuzeigen und mit den Zeitungen zu reden. Die Kunst ist nebensächlich, sagte er, wichtig ist, seine Nase herzuzeigen und mit den Zeitungen zu reden. Ihnen zu erzählen, was man für Ideen hat und warum man so besonders ist. Das ist es, was die Zeitungen wollen, sagte er. Sie wollen ihr Profil fotografieren und von ihnen hören, wie besonders sie sind. Sie wollen erfahren, was du empfindest und wie deine Kindheit war. Sie wollen etwas über deine politischen Ansichten erfahren und über deine Ansichten zur Kirche. Wenn deine Nase nicht die richtige Nase ist, kannst du die Zeitungen vergessen, sagte er. Du kannst die Festivals vergessen. Du kannst die Aufträge vergessen. Du kannst die Schallplattenfirmen vergessen. Ich wollte nie, dass man meine Nase fotografiert, sagte er. Meine Nase ist schöner und vornehmer als die der meisten von ihnen, sagte er. Es ist eine sizilianische Nase. Eine aristokratische Nase. Aber sie ist nichts für die Zeitungen, sagte er. Sie ist nichts für die Werbebroschüren. Sie ist ausschließlich für mich da, um es mir zu ermöglichen, zu atmen und zu arbeiten. Ein Musiker ist in erster Linie ein Arbeiter, sagte er. Er ist keine Modepuppe. Er ist kein Politiker. Er ist kein Philosoph. Er ist kein Liebhaber. Er ist ein Arbeiter. Ich habe dich angestellt, Massimo, sagte er, damit du mir meine Fahrkarten besorgst, wenn ich irgendwo hinfahren möchte und damit du mich hinaus aufs Land fährst, wenn ich aus der Stadt flüchten muss. Aber vor allem brauche ich jemanden, der mir die Zeitungsreporter und die Fotografen von meinem Haus fernhält. Du kannst dir, sagte er, das Ausmaß an Faulheit, Bestechlichkeit und Verlogenheit dieser Journalisten nicht vorstellen. Vor nicht allzu langer Zeit, sagte er, als ich in Paris der Premiere eines meiner Werke beiwohnte, war das Einzige, was die Journalisten sagen konnten: „Mr. Pavone macht keine halben Sachen, nicht nur schreibt er ein ganzes Stück über eine einzige Note, er schläft auch in einem Schrank statt in einem Bett.“ Kannst du dir das vorstellen, Massimo?, sagte er, nicht in einem Bett, sondern in einem Schrank. (...)

Die Idee der Oper. Die Oper, Massimo, sagte er zu mir, ist das Irrlicht, das den modernen Komponisten in sein Verderben gelockt hat. Weil Komponisten in der Vergangenheit Opern geschrieben haben, glauben diese Leute, dass sie es immer noch tun müssen. Aber sie verstehen nicht, Massimo, sagte er, dass es so etwas wie einen kulturellen Imperativ gibt. Einen kulturellen Imperativ, Massimo, sagte er. Der kulturelle Imperativ der Renaissance führte zur Komposition von Messen; der kulturelle Imperativ des Barock führte zur Komposition von Oratorien. Das ist damit zu erklären, dass es sich hierbei immer noch um in sich geschlossene Gesellschaften handelte. Der kulturelle Imperativ der Romantik führte zum Instrumentalkonzert, zum Lied und zur romantischen Oper, dieser einsamen Klage des einsamen Ichs. Die romantische Oper, sagte er, ist Unterhaltung für die Massen, für die einsamen Individuen, aus denen sich die Masse zusammensetzt. Sie takelt sich als Leidenschaft auf, als Leidenschaft des Begehrens, als Leidenschaft der Liebe und des Verlusts der Liebe, deren einziges Heilmittel der Tod ist. Aber es ist nur Aufgetakeltheit, Massimo, sagte er, nur Tarnung. Worum es wirklich geht, ist der Verlust der Gesellschaft. Das ist es, was diese Opern wirklich beklagen, sagte er, den Verlust des Geistes dieser Gesellschaft, der die Messen und Oratorien der Vergangenheit beseelte. Die moderne Oper, sagte er, versucht entweder vorzutäuschen, dass die alten Formen noch immer lebensfähig sind, oder sie versucht, die Form neu zu erfinden. Vielleicht wird in der Zukunft jemand kommen und die Oper als Ganzes neu erfinden, aber vorerst ist das unmöglich. Ernsthafte Komponisten werden heutzutage immer an der Oper scheitern, sagte er, als wir nach Palestrina fuhren, ganz gleich, wie sie sich dieser Aufgabe angenommen haben, ob sie wie Henze und Britten versucht haben, einer totgeweihten Gattung neues Leben einzuhauchen, oder ob sie wie Nono vorgegangen sind, der seine Architektenfreunde dazu gebracht hat, ihm für seine Opern ein spezielles Gehäuse zu konstruieren und seine intellektuellen Freunde dazu, ihm für seine Opern unverständliche Texte zu schreiben, Texte, die aus dem Griechischen und dem Deutschen zusammengestellt waren, weil die Fähigkeit, Massimo, sagte er, sich auf griechische und deutsche Mythologie zu beziehen, und vor allem die Fähigkeit, griechisch und deutsch im Original zu zitieren, für die Italiener der Beweis dafür ist, dass man ein Mensch von Kultur ist, dass man endlich die armselige Hütte des Bauern hinter sich gelassen hat und in die Welt der Kultur eingetreten ist. Alles eine Katastrophe, sagte er. Henze eine Katastrophe. Britten eine Katastrophe. Dallapiccola eine Katastrophe. Nono eine Katastrophe. Berio eine Katastrophe. Busotti eine Katastrophe. Ist dir übrigens aufgefallen, Massimo, sagte er, wie viele Komponisten Namen haben, die mit dem Buchstaben B beginnen? Um eine umfassende Kenntnis der westlichen Musik zu erlangen, sagte er, braucht man nur Werke von Komponisten zu hören, deren Name mit B beginnt. Wenn dein Name nicht mit B beginnt, sagte er, ist allein das schon ein Grund, dieser Tradition entfliehen zu wollen. Weißt du, warum all diese modernen Komponisten Opern schreiben wollen? sagte er. Weil sie glauben, schon genug gelitten zu haben, sie, die so verborgen in ihren Zimmern komponieren, und jetzt wollen sie die Bühnen erobern wie Caruso und Pavarotti und sich verbeugen und hübsche Damen haben, die bei dem anschließenden Empfang verzückt zu ihren Füßen sinken und die sie in ihre Betten bekommen. Sie glauben, dass sie den Musen ihren Zoll entrichtet haben in all den Jahren, in denen sie in verschlossenen Zimmern gearbeitet haben, so ganz für sich, ohne hübsche Damen, die sich für sie interessiert haben, und ohne Ruhm und ohne Geld, und deshalb haben sie jetzt das Gefühl, dass ihnen das alles von der Gesellschaft geschuldet wird, aber dieses Gefühl ist nichts anderes als der Ausdruck ihrer grundsätzlich kleinbürgerlichen Mentalität und Trivialität. Mein Bedarf an Reichtum und Ruhm und hübschen Damen war gedeckt, als ich 1927 Monte Carlo verließ, sagte er, und ich war erst zweiundzwanzig, aber das sind fünfzig- und sechzigjährige Männer, die das Gefühl haben, dass ihr Leben noch gar nicht begonnen hat, und deshalb schreiben sie Opern, sie wollen endlich ihren Stift aus der Hand legen und mit hübschen Damen ins Bett springen, die nicht ihre Ehefrauen sind, und einige von denen bringen es ja auch wirklich fertig, es zu werden. (...)

Wir saßen am Waldrand. Die Nacht brach herein, und die Zikaden sangen aus voller Kehle. Ich dachte, er wäre vielleicht eingeschlafen. Das tat er manchmal, und dann musste ich warten, bis er aufwachte und mich bat, ihn nach Hause zu fahren. Aber dann sprach er. Er hatte sich so hingesetzt, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Höre ihrer Musik zu, sagte er. Höre ihrer pochenden Energie zu. Wo ist der griechische oder der italienische Komponist, der sich auf diese machtvolle Musik eingelassen hätte, die immerhin für alle da und zu hören ist? Einige wenige Renaissance-Komponisten scheinen Interesse an den Zikaden gehabt zu haben. Stefano Landi schrieb ein Madrigal über eine Zikade, die im Sterben noch singt, und Monteverdi machte sich einen kleinen Spaß daraus, in einem seiner Madrigale Zikaden von Menschen imitieren zu lassen, sagte er, ein köstlicher Spaß, aber eben nur ein Spaß. Doch die dämonische Kraft, die dem Lied der Zikade innewohnt, blieb von Komponisten ungenutzt. Und dennoch, wenn man ihr zuhört, ist sie in ihrer Art so machtvoll wie alles, was man aus einem buddhistischen Tempel in Nepal oder Tibet erklingen hört. Und was sagt uns das, Massimo? Was sagt uns das? Jetzt, sagt es uns, und Ewigkeit. Wenn man fähig ist, das jetzt zu hören, sagte er, ist man auch fähig, die Ewigkeit zu hören. Das ist es, was ich versucht habe, sagte er, eine Musik des Jetzt zu komponieren, die eine Musik der Ewigkeit sein würde. Dann schwieg er lange Zeit. Dann sagte er: Bring mich nach Hause, Massimo. Ich wollte noch ein letztes Mal die Zikaden hören, und jetzt habe ich sie gehört. Ich hob ihn mit seiner Decke auf. Obwohl er in seiner Blütezeit den Eindruck eines so hochgewachsenen Mannes machte, war er in Wahrheit nur von durchschnittlicher Körpergröße, und am Ende wog er nur noch sehr wenig.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Jung und Jung. Der Protagonist dieses Romans basiert teilweise auf dem italienischen Komponisten Giacinto Scelsi (1905 – 1988). Der Autor bedankt sich bei der Fondazione Isabella Scelsi, Rom, für die Erlaubnis, Fragmente aus Texten Scelsis in die Erzählung einbauen zu dürfen.

Gabriel Josipovici: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks. Aus dem Englischen von Markus Hinterhäuser. Jung und Jung, Salzburg, 2012, 175 Seiten, 19,90 Euro.
„Unendlichkeit“ in der Übersetzung von Markus Hinterhäuser wird am Montag (13.8.) um 18 Uhr auf der Edmundsburg präsentiert. Es liest der Übersetzer.
Bild: dpk-krie


 

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