Warum sind Sie noch hier?

LEKTÜRE VORAB / LITERATURFEST SALZBURG / ERICA PEDRETTI

25/05/11 Dezember 1945: Ein Rotkreuztransportzug fährt von Warschau über Auschwitz, Prag, München nach St. Margrethen, mit ihm reisen Auslandschweizer, KZ-Überlebende und einige mehr, darunter die fünfzehnjährige Erica Pedretti und ihre Geschwister. In ihrem Buch „fremd genug“ erzählt Erica Pedretti von Abreisen und Ankünften, von Stationen ihrer Lebensreise, die sie aus der Tschechoslowakei in die Schweiz brachte, von der Schweiz in die USA und wieder zurück in die Schweiz. „Eine wunderbare Zeit, fast paradiesisch, wäre nur die Fremdenpolizei nicht gewesen: Warum sind Sie noch hier?“ - Hier eine Leseprobe.

Von Erica Pedretti

Als ich vier war, verbrachte ich, wahrscheinlich durch Vermittlung einer Zürcher Tante, einer Cousine meines Vaters, einige Wintermonate, aber vielleicht waren es doch nur ein paar Wochen, in einem Kinderheim auf der Rigi. Auf dem Rigi, korrigierte mich mein Vater kopfschüttelnd, wenn ich von der Rigi erzählen wollte, der Rigi ist doch ein Berg, also männlich. Er sagte es so oft oder so energisch, daß auch ich seither immer an den Rigi, männlich, denke. Es war mein erstes Kinderheim. Wahrscheinlich war es viel besser als alle folgenden gräßlichen Kinderheime, in die ich geschickt wurde, weil ich nicht aß und jämmerlich dünn war.

Immer wieder durfte eins der Kinder abreisen, glücklich und beneidet, und das Fräulein, das sie mit der Bergbahn hinunter nach Vitznau gebracht hatte, erzählte dann von den schönen, tränenreichen Wiedersehen mit den Müttern. In Gedanken probte ich meine Abreise, wollte eine ebenso rührende Wiedersehensszene bieten. Doch damit war dann nichts: ein Kuß von der Mutter, ein Kuß vom Vater. Meine Eltern hatten gar keinen Sinn für Sentimentales.

Im Jahr darauf fand ich mich in einem Heim auf dem Obersalzberg wieder, in dem einige Jahre zuvor eine Cousine (offenbar gern) gewesen war. Eigenartigerweise fuhr man dort auf der rechten statt wie bei uns in der Tschechoslowakei auf der linken Straßenseite, und als wir bei einem der täglichen Spaziergänge auf eine Gruppe Männer trafen, rissen alle, Betreuerin und Kinder, die Hände hoch und marschierten mit schräg erhobenem Arm stramm vorbei, den Blick auf einem nicht sehr beeindruckenden Mann, den sie Führer nannten. Eigenartig. Und hatten sie nicht gelernt, daß man niemanden so anstarren darf ? Kurze Zeit später sei dann dieses Kinderheim verschwunden.

Mit freundlicher Genehmigung des Rechtsinhabers Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Erica Pedretti: fremd genug. Mit Illustrationen der Autorin. Suhrkamp/Insel, Berlin 2010, Insel Bücherei 1329. 71 Seiten, 12,20 Euro.
Erica Pedretti liest heute Mittwoch (25.5.) neben Doris Knecht, Bas Böttcher und Antonio Fian bei der Eröffnung des Literaturfests Salzburg um 19.30 Uhr in der Großen Aula.
Bild: www.suhrkamp.de