Düsteres Flair des Nordens

LESEPROBE / FAGERHOLM 

10/01/23 Es könnte ein verschollen geglaubter „Wallander“ sein. Die Düsterkeit passt, die Scheinheiligkeit. Auch Skandinavien: Aus Helsinki stammt Monika Fagerholm. Für ihren Roman Wer hat Bambi getötet? bekam sie 2020 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Ebenso prominent die Übersetzerin: Antje Rávik Strubel erhielt für ihren Roman Blaue Frau den Deutschen Buchpreis 2021. Und wer hat nun Bambi getötet? – Hinweise gibt die Leseprobe.

Wer hat Bambi getötet?

Von Monika Fagerholm

Die letzten Jahre nach der Katastrophe wohnten Annelise und Nathan allein im Geisterschiff. Papa Albinus »Abbe« war weg, hatte sie verlassen. Annelises Karriere im Eimer. »Sie ist tief gefallen«, sagte Angela manchmal, bei den seltenen Gelegenheiten, an denen das Gespräch auf Annelise kam, allerdings ohne das, was passiert war, beim Namen zu nennen. Sie, Angela, sagte nie Misshandlung, Gruppenvergewaltigung – nur (wenn sie es nicht vermeiden konnte) „die Sache“.
In all den Jahren danach, als der Kontakt zwischen ihr und Annelise – und Nathan und Gusten und Gusten und Annelise – abgebrochen war und es auch bleiben würde (und Sascha Anckar, das Vergewaltigungsopfer, an Drogen zugrundeging, irgendwo in den USA).

Ja, und psst, über Annelise muss auch Folgendes gesagt werden: dieser Stallmeister, die Tochter des Stallmeisters, von der Angela bei den Spaziergängen auf dem Wanderpfad faselte, als Gusten klein war: Das war tatsächlich nur eine Art, eigentlich etwas anderes zu sagen. Natürlich hatte es nie einen Stallmeister mit Familie gegeben, hatte es überhaupt nie irgendeine Familie gegeben. Denn Annelise, verheiratete Häggert (eine der ältesten Familien im Villenviertel) – einst das Maskottchen des gesamten Villenviertels und sein kleiner Liebling wegen ihrer großartigen Karriere, die einen Abglanz auf sie alle warf, in jenen Jahren war sie wirklich berühmt, wurde gewählt zur Frau des Jahres, zur Geschäftsfrau des Jahres, zur Fredrika und Ulrika des Jahres und so weiter – war eigentlich ein Heimkind, aufgewachsen im Kinderheim Grawellska, das ebenfalls einst hier unten am See gewesen war. Mit anderen Worten: eine aus dem Grawellska. Obwohl das Grawellska, als Sascha vor vielen Jahren dort wohnte, im Herbst 2007 und noch im Frühling 2008, bis zur Katastrophe, kein Kinderheim mehr war, sondern eine private sozialpädagogische Einrichtung für gefährdete Mädchen und junge Frauen, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr zu Hause wohnen konnten oder kein Zuhause hatten. Wie beispielsweise Sascha, die infolge verschiedener kleinkrimineller Handlungen wie Ladendiebstahl und Drogenmissbrauch aus der Wohnung rausgeworfen worden war, in der sie mit ihrem Papa gewohnt hatte. („Vadda“, sagte sie, „der verdammte Pimp.“)

Zurück im Haus blieb Nathan. Der immer noch dort wohnt. Nein nein nein ... Sie sehen sich nicht, er und Nathan, haben keinen Kontakt, nie im Leben, aber Gusten weiß natürlich Bescheid, das gehört zum Geschäft, schließlich arbeitet er in der Immobilienbranche. Weiß auch dank eines anderen Kindheitsfreundes namens Cosmo Brant Bescheid. Der beharrlich anruft, schreibt, sich verabredet. Und ihn hier herunter an den Kaltsee schleppt.

Mit freundlicher Genehmigung des Resienz Verlages.

Monika Fagerholm. Antje Rávik Strubel (Übersetzung): Wer hat Bambi getötet? Roman. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2022. 256 Seiten, 25 Euro, auch als e-Book erhältlich – www.residenzverlag.com
Bild: Residenz Verlag / Thron Ullberg HÖGUPPLÖST