Wie weit unten ist Australien?

LEKTÜRE / WEINMÜLLER / EINE HAND VOLL MOND

04/06/10 Im Traumland Australien mit seinen ungeheuren Weiten will Esther der Enge ihres Alltags zwischen ihrem ungeliebten Mann und ihrem bindungsunfähigen Geliebten entfliehen. Ihre Reise zur Selbstfindung wird aber zum unkontrollierbaren Abenteuer. Esther muss erkennen, dass die Realität nicht berechenbar ist und ihre bisherigen Erfahrungen wenig zählen. - "Eine Hand voll Mond" heißt der neue Roman der Salzburger Autorin Gerlinde Weinmüller.

Von Gerlinde Weinmüller

Es musste Australien sein. Wenn schon fort, dann ganz weit fort. Das Land mit den vielen Möglichkeiten. „Down Under.“

Wie übersetzt man das eigentlich? Unter unten oder unten drunter oder einfach ganz unten?

Vielleicht versteckt sich eine Frage hinter diesem Ausdruck: Was ist unter unten? Was steckt dahinter? Gibt es unter unten noch ein anderes Unten, das ganz anders ist, als sie es sich vorstellen kann?

Oder ist unten eigentlich oben, wie auf der Karte aus ihrer Schulzeit, die Australien in den Mittelpunkt stellt und damit die ganze Welt verrückt und alle anderen Kontinente aus ihren Angeln hebt, um ihnen neue, spektakulär andere Plätze zuzuordnen?

Ihr Leben auf den Kopf stellen und damit ganz neu sehen, das wollte sie. Alles umdrehen, umkrempeln, dahinterblicken, unter die Decken der Gewohnheit schauen, lüften, den Mief zurücklassen und endlich wieder frei atmen, auch mit dem Risiko, dass ihr schwindlig wird, dass sie sieht, was sie vielleicht gar nicht sehen wollte.

„Sind Sie verheiratet?“, fragte ihr Sitznachbar und rückte noch näher an sie heran.

„Ja“, antwortete Esther. Das „noch“ behielt sie für sich.

„Na dann, willkommen im Club! Wie sagt man so schön: Zuerst die Ehe, dann das Vergnügen.“

Der schwerfällige Mann lachte schallend und stieß sie dabei mit seinem Ellbogen so fest am Unterarm an, dass sie beinahe ihren Kaffee verschüttet hätte.

„Fensterplatz oder Gang?“, hatte man sie gefragt, und sie hatte ahnungslos und selbstsicher „Fenster“ gewählt.

Und das hatte sie jetzt davon. Sie saß zwischen dem winzigen Fenster, das einem Auge mit geschlossenem Lid glich, und einem schwitzenden Fleischberg, der sich seit fünf Stunden nicht mehr erhoben hatte und sich nur bewegte, um zu lachen, zu sprechen, zu trinken oder zu essen.

Waren ein oder zwei Stunden vergangen, seitdem sie umständlich über ihn drüber geklettert war, um auf die Toilette zu gehen? Dabei war sie ihm so nahe gekommen, dass sie die schwarzen Haare in seinen Nasenlöchern erkennen konnte und den braunen, lang gezogenen Leberfleck mitten auf seiner Stirn.

„Das magische dritte Auge“, hatte sie gedacht.

Er hatte, gerade als sie sich direkt über ihn geschoben hatte, leise gegrunzt und sich ihr entgegengedrängt, bis seine Brust ihre Brustwarzen berühren konnte.

Zurück war sie, den Rücken ihm zugewandt, über ihn geklettert und hatte „Entschuldigung“ gemurmelt, warum auch immer.

„Nur zu“, hatte er gequiekt, und als sie sich völlig erschöpft zwischen das Fenster und den dicken Mann gezwängt hatte, zog er den Saum seines hellblauen T-Shirts mit der roten Aufschrift „just do it“ etwas hinauf, legte seine große, behaarte Hand an seine Seite und flüsterte ihr zu: „Seitenausgang! Ich muss nie.“

Ihren entsetzten Blick hatte er als Mitgefühl interpretiert und ihr bereitwillig und ausführlich seine Krankengeschichte erzählt.

Doch das viele Essen, Trinken und Erzählen hatten auch ihn endlich müde gemacht, und er war eingeschlafen, einfach so, mitten im Satz.

Sie stellte erleichtert fest, dass sein Schnarchen sie beruhigte.

Mittlerweile wurde das Ziehen in ihren Beinen immer stärker und schmerzhafter. Aber man hatte sie ja gewarnt vor diesen Langstreckenflügen. Höchste Thrombosegefahr, vor allem für Frauen in fortgeschrittenem Alter, wenn man vierzig als „fortgeschrittenes Alter“ bezeichnen konnte. Gott sei Dank rauchte sie nicht, hatte sie nie getan. Zu großes Risiko.

Sie hätte sich doch das Blutverdünnungsmittel spritzen sollen, aber dazu hatte sie sich nicht durchringen können. Sich selbst eine Nadel in die Bauchdecke zu stoßen, schien ihr unmöglich. Alle vier Stunden ein Aspirin C zu schlucken musste genügen. Auch das verdünnt das Blut.

Es war das erste Mal, dass sie alleine reiste. Eigentlich war sie dafür viel zu kommunikativ, zu gesellig, zu sehr auf ein Du ausgerichtet oder, ehrlich gesagt, einfach nur viel zu feig.

Aber dieses Mal war alles anders. Dass sie diesen Weg alleine gehen musste, war von Anfang an klar. Sie wollte dieses Land erleben, das sie genauso magisch anzog wie jene Bilder von Escher, auf denen die Endlostreppen weder Anfang noch Ende haben und dabei eine Ahnung von Ewigkeit hinterlassen. Vielleicht gab es da draußen irgendwo einen Ort, an dem sich nicht nur ihre Antworten, sondern auch ihre Fragen erübrigten.

Sie beobachtete den schlafenden Koloss neben sich, der rhythmisch und rasselnd ein- und ausatmete. Ein lebendiger Blasebalg, der Töne erzeugte, die sie an das Schnarren von Drehorgeln erinnerten.

So begann er also, ihr Walkabout zu sich selbst, in diesem selbst gewählten Gefängnis, das ein Entrinnen nicht zuließ.

Von einem Gefängnis ins andere, dachte sie, schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
"Eine Hand voll Mond" ist in der Edition Garamond erschienen.