Von Homophobie und Political Correctness

LESEPROBE / DIETMAR KRUG / DIE VERWECHSLUNG

26/02/18 Ein TV-Talkmaster veröffentlicht seinen ersten Roman, in dem er die Misshandlung eines Jungen durch einen Pater beschreibt. Kurz darauf erhält er den „Giftigen Kaktus“ für die schwulenfeindlichste Äußerung des Jahres. Er verstrickt sich immer tiefer in dem Thema, bis sein gesamtes Leben in eine Krise stürzt. Dass er davon nicht lassen kann, liegt an einer irritierenden Namensverwechslung in seinem Roman, die er jedoch erst nach Erscheinen bemerkt. Ihm wird bewusst, dass er den Falschen an den Pranger gestellt hat. – Hier eine Leseprobe aus „Die Verwechslung“.

VON DIETMAR KRUG

Der Buchstabe

Er wusste nicht, wie lange er schon wach lag. Mit geschlossenen Augen versuchte er, seinen Atem dem Ticken des Weckers anzupassen, um ruhiger zu werden. Neben sich hörte er die regelmäßigen Atemzüge seiner Frau, und er begann, sie um ihren Schlaf zu beneiden. Er zog sich das Betttuch vom Körper, Schweiß hatte sich auf seinem Brustbein gesammelt. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster drang die kühle Luft einer windstillen Frühlingsnacht. Der nahe Wald sandte Feuchte aus, aus der Ferne waren die Geräusche der Stadt zu hören.

Schließlich öffnete er die Augen und überließ sich seinen Gedanken, die in immer neuen quälenden Kreisen vergeblich versuchten, ein keimendes Unbehagen zu unterdrücken. Und obwohl er wusste, dass es zu nichts führen würde, ging er das Ganze noch einmal durch. Was drohte ihm jetzt eigentlich? Waren seine Ängste nicht haltlos übertrieben? Das schlimmste Szenario war doch folgendes: Ein Gericht würde die weitere Veröffentlichung seines soeben erschienenen Romans per einstweiliger Verfügung verbieten. Dann würde er halt mit offenen Karten spielen, seinen Fehler zugeben, die falsche Anschuldigung öffentlich aus der Welt räumen und den Ruf des Mannes, den er grundlos in den Dreck gezogen hatte, wiederherstellen. Aber würde das ausreichen? Könnten die Kläger den Verlag am Ende zwingen, die gesamte Auflage einzustampfen? Er nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen seinen Verleger anzurufen, um ihm seinen fatalen Irrtum mitzuteilen und sich gemeinsam mit ihm auf das Kommende einzustellen. Der Name des Mannes, dem er in seinem Roman eine brutale Gewalttat an einem Kind untergeschoben hatte, kam nur in einer Szene vor, man könnte ihn zur Not mit ein paar Schwärzungen tilgen. Die Auflage war zwar hoch, weil der Verlag auf seine Popularität als Talkshow-Moderator gesetzt hatte. Aber ein paar Studenten könnten eine solche Tilgungsarbeit in einigen Tagen erledigen.

Er wälzte sich auf die Seite und atmete mehrmals tief ein und aus. Lassen Sie Ihre Gedanken ziehen, hatte sein Arzt ihm gesagt, wie Wolken am Himmel. Es gelang ihm einige Minuten lang, seine Lider begannen bereits schwer zu werden. Doch die Unruhe setzte sich durch. Was, wenn die Kläger gerade wegen seiner Popularität alle Hebel in Bewegung setzten und mehr wollten, seine völlige Vernichtung als Autor, als öffentliche Person? Der Mann, den er beschuldigt hatte, war ein Geistlicher, ein Ordensmann, die katholische Kirche hatte die Mittel, um einen langen Prozess durchzustehen. Aber wäre die Kirche überhaupt interessiert an einem solchen Aufsehen?

Mit einem langen Ausatmen, fast schon einem leisen Seufzer, setzte er sich auf und lauschte noch einmal den ruhigen Atemzügen seiner Frau. Behutsam streckte er seine Hand aus, fühlte die warme Haut ihres Rückens. Dann stand er auf und verließ so lautlos wie möglich den Raum. Im Flur blieb er kurz unschlüssig stehen, schließlich ging er in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des Korridors und nahm sein Laptop vom Schreibtisch. Auf Zehenspitzen stieg er damit die Treppe ins Erdgeschoss hinab und ging in die Küche. Er stellte das Laptop auf den Tisch und öffnete den Kühlschrank, das Licht warf einen länglichen Schein in den Raum, die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Mit zusammengekniffenen Augen nahm er ein Bier aus dem Türfach. Kurz hielt er die Flasche an seine Wange, spürte die Kühle des Glases. Dann stellte er sie zurück und schlug die Tür mit einem Geräusch zu, das ihn erschreckte. Mit angehaltenem Atem lauschte er ins Haus hinein. Hatte er seine Frau geweckt? Wollte er sie am Ende aufwecken?

Er strich sich mit der Hand über die Stirn und rekapitulierte die fatale Geschichte noch einmal in Gedanken. Bemerkt hatte er seinen Irrtum, als er eine E-Mail an seine ehemaligen Mitschüler schreiben wollte, mit denen er vor über dreißig Jahren in Haus Birkenhain, einem Ordensgymnasium in seiner Heimatprovinz, das Abitur gemacht hatte. Er wollte sie zu einer Lesung aus seinem Roman einladen, die er in zwei Wochen an ihrer ehemaligen Schule haben würde.

Er hatte lange an der Einladungsmail gefeilt, immer wieder Formulierungen geändert, Wörter ersetzt. Es hatte ihn in eine überraschende Erregung versetzt, den Roman ankündigen zu können. Die meisten seiner ehemaligen Mitschüler hatten gewiss mitbekommen, dass aus ihm ein bekannter Talkmaster geworden war, aber der Roman erfüllte ihn doch mit einem besonderen Stolz. Er würde nach all den Jahren als gemachter Mann in seine Heimatwelt zurückkehren. Der Ausdruck „gemachter Mann“ erschien ihm seltsam, gab es eigentlich auch eine „gemachte Frau“? Er machte sich eine Notiz in einem Heft, das er für solche Einfälle immer auf dem Schreibtisch bereitliegen hatte. Er wollte die Mail schon abschicken, doch dann fügte er, beschwingt von einem plötzlichen Hochgefühl, noch hinzu: „Wenn euch im Roman die Schule und die beschriebenen Lehrer bekannt vorkommen, dann ist das kein Zufall … Übrigens habe ich die Namen aller real existierenden Figuren geändert, bis auf eine einzige Ausnahme: Pater Spelthan. Sobald ihr die Szene lest, in der er seinen Auftritt hat, werdet ihr wissen, warum.“

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages.

Dietmar Krug. Die Verwechslung. Roman. Otto Müller Verlag, Salzburg 2018. 320 Seiten, 23 Euro – www.omvs.at
Dietmar Krug stellt seinen Roman am Freitag (2.3.) um 19.30 Uhr im Literaturhaus Salzburg vor. An diesem Abend, der unter dem Titel „Krug & Krug“ veranstaltet wird, wird auch Franziska Krug, eine junge Schriftstellerin und nicht mit Dietmar Krug verwandt, lesen. – www.literaturhaus-salzburg.at
Bild: Pilo Pichler / OMVS