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Mit dem Vorderhirn aus dem Kopf gerissen

BUCHBESPRECHUNG / LECHNER / DER IRRWEG

12/05/21 Er sieht sie überall. Zunächst aus Verliebtheit, bald jedoch aus Angst. Angst, sie könnte wieder ein Auto anzünden. Angst, sie könnte ihn ein weiteres Mal verprügeln. Ja, Hedwig ist eine Verrückte. Doch Lars, der Antiheld in Martin Lechners Roman Der Irrweg, kommt nicht los von ihr.

Von Sandra Eder

Nicht alle haben das Glück, aus gutem Elternhaus zu stammen. Lars Gehrmann sollte mit seinen zwanzig Jahren eigentlich in der Blüte seines Lebens stehen. Die Umstände machen es ihm jedoch schwer: Zuhause muss er sich um seine alkoholkranke Mutter kümmern, in der Schule nehmen die Mobbingangriffe auf ihn zu. Er bricht die Schule ab, macht Zivildienst. Doch stellt sich gerade dieser Fluchtversuch als fataler Fehlschlag heraus. Lars muss ausgerechnet in einer psychiatrischen Anstalt arbeiten. Nach dem Motto „Schlimmer geht immer“ verliebt er sich dort in Hedwig, eine Insassin der Jugendanstalt.

Was als jugendliches Techtelmechtel beginnt, wird schnell zur ko-abhängigen Hassliebe. 

Lars, der Protagonist in Martin Lechners Roman Der Irrweg empfindet ein Gefühl von Leichtigkeit, wie zuvor noch nie in seinem Leben: „All die dummen ersten Schritte, all das Anbahnungsgebammel, das Geräusper und Gestotter, weil man nicht wusste, was man durfte, was man sollte, was man musste, dieses verwirrende Spiegelkabinett der Gefühle, bei dem man sich am Ende bloß selbst blöd ins Gesicht guckte, all das war mit Hedwig so schnell überblättert worden, dass sie sich bereits in jenem Kapitel befanden, in dem die Geschichte Fahrt aufnahm“.

Doch die „Hedwigsorge“, wie Lars selbst das Verhältnis zwischen ihm und ihr nennt, entwickelt sich zur Irr-Fahrt. Schließlich ist Hedwig eine Irre. Sie zündet das Auto seines Vorgesetzten an, terrorisiert seine Mutter und schlägt ihn selbst Grün und Blau. Doch Lars bleibt bei ihr. Alles aus Liebe?

Um den Protagonisten auf Martin Lechners Irrweg zu verstehen, darf man ihn nicht einfach als einen leichtfertigen, vor Liebe blinden Jugendlichen interpretieren. Es steckt eine tiefgründige  nachvollziehbare Psychologie dahinter. Durch das verantwortungslose Verhalten seiner Mutter musste er einerseits schon sehr früh lernen, die eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen und sich um andere zu kümmern. Andererseits stellt er einen durch und durch mittelmäßigen Charakter dar. Er ist weder besonders schlau noch hübsch noch beliebt. Somit ist Lars in zweierlei Hinsicht anfällig dafür, auf die schiefe Bahn zu geraten. Er hat nie gelernt, Grenzen zu setzen und fühlt sich zudem erdrückt von seiner eigenen Mittelmäßigkeit. Im Stillen leidend erfüllt er jede Pflicht, die man ihm aufbürdet. Dementsprechend bedeutet der Irrweg für ihn auch Flucht vor seinem alltäglichen Leben.

Unter all diesen Umständen ist es kein Wunder, dass der größte Wunsch des dauer-erschöpften Lars es ist, vollkommen unmündig – und wenn es sein muss, in Form einer Behinderung – zu sein. Zurück in der Schule muss er einen Vortrag über das Thema „Glück“ halten, und erzählt dabei von seinem Urgroßvater, der durch einen Arbeitsunfall auf der Baustelle geistig behindert wurde: „Der Zwang, eine Aufgabe zu Ende zu führen, war mitsamt dem Vorderhirn aus dem Kopf gerissen worden. […] Wir müssen uns Herrn Gehrmann als einen glücklichen Menschen vorstellen.“.

Die Zerrissenheit seiner Hauptfigur bringt der Autor Martin Lechner durch verschiedene Stilmittel zum Ausdruck: Zeitraffendes Erzählen spiegelt das Gefühl wider, alles würde an einem vorbeiziehen. Die Kapitel sind kurz und stellen jeweils für sich stehende, aber dennoch von der Reihenfolge her kohärente Szenen aus dem Leben des Protagonisten dar. Die Szenen können Begegnungen, Erinnerungen oder Träume sein. Die Sprache ist derb, alltägliche Handlungen wie Toilettengänge und intime Gedanken, wie die Vorstellung von Gewaltausübung werden, ungefiltert wiedergegeben. Zudem werden psychische Vorgänge oft durch körperliche Prozesse zum Ausdruck gebracht. So bekommt Lars etwa einen Blähbauch, wenn es um Gespräche über die Zukunft geht, oder Kopfschmerzen bei der Vorstellung, in der Schule bloßgestellt zu werden.

Ein wahrlich brisantes und vielseitiges Buch. Es versucht, möglichst ungefiltert die Geschichte eines jungen Menschen, der vom Weg abkam, zu erzählen. Dabei bleibt es durch den derben und zugleich trockenen Stil authentisch. Das offene Ende lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Wird Lars den Irrweg bezwingen können?

Martin Lechner: Der Irrweg. Roman. Residenz Verlag, Wien 2021. 272 Seiten, 24 Euro; e-Book 16,99 Euro - www.residenzverlag.com

 

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