Wie ist das mit der Tagewählerei?

BUCHBESPRECHUNG / WOLF / VERSCHWUNDENE BRÄUCHE

16/12/16 Wenn es den Brauch denn noch gäbe, dann wären in der Steiermark in diesen Tagen Burschen mit einer Figur des heiligen Josef unterwegs. Nicht nur Maria hat ja nach einer Herberge gesucht. Das "Frautragen" gibt es noch mancherorts, das "Joseftragen" (in der Steiermark noch in der Zwischenkriegszeit beschrieben) ist ganz abgekommen.

Von Reinhard Kriechbaum

"Verschwunden". Das ist ein Attribut, das fatal gut zu Bräuchen zu passen scheint, ungefähr so gut wie "uralt" oder "echt". Die Journalistin und Volkskundlerin Helga Maria Wolf, die um das Fragwürdige solcher Begriffe nur zu gut weiß, hat also ein Buch "Verschwundene Bräuche" betitelt. Da liegt man nicht ganz falsch mit der Vermutung, dass sie ihre Leser mit der Nase drauf stoßen will, wie sehr sich Bräuche wandeln.

Stimmt, vieles ist tatsächlich völlig abgekommen ist. Es gibt nirgendwo mehr am 24. Dezember ein Adam-und-Eva-Spiel. Kein Maturant setzt noch einen Zylinder auf (wie überhaupt es so gut wie keine Schüler- und Studentenbräuche mehr gibt). Nach einer Geburt den Hausvater "auszuläuten", also den frisch gebackenen Vater in einer Art Lärmprozession von der Feldarbeit heim zu geleiten ans Wochenbett der frisch Entbundenen: Ein solcher Brauch hätte heute nicht nur wegen der Mobiltelefonie keine Überlebenschance mehr, sondern auch weil die Bauernschaft nur mehr wenige Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Viele Bräuche (und das gilt für die Mehrzahl der in diesem Buch beschriebenen) sind aber bloß verwandelt worden. Sie wurden neuen Lebensumständen eingeschrieben und anderen Erwartungen oder Bedürfnissen angepasst. "Verschwunden" sind also die ursprünglichen Brauch-Motive, wogegen die Rituale selbst durchaus bekannt, oft sogar sehr beliebt sind. Manche - man denke an die Heiligen drei Könige - werden gar flächendeckend ausgeübt (ursprünglich war es ein Heischebrauch armer Leute, jetzt sammelt die Katholische Jungschar für die Dritte Welt).

Das Buch ist in Art eines Lexikons aufgebaut, also in alphabetischer Gliederung, und die Autorin bietet eine Überfülle an Information und Wissen. Gerade die auf ihrer reichhaltigen Brauch-Kenntnis angesammelte Erfahrung sichert erfrischende assoziative Verknüpfungen. Eine Fundgrube also.

Immer gelten jene Sätze, die Helga Maria Wolf dem Vorwort voran stellt: "Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch nicht aus der 'Volksseele'. Sie werden erfunden, wenn man sie braucht. Bräuche wandern, entwickeln sich dynamisch weiter, verschwinden, werden revitalisiert. Keiner hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten." Mit Begriffen wie "Braucherfinder" mag die Autorin Leser mit ganz anderer Erwartungshaltung irritieren. Dem Begriff "Brauch" haftete ja lange der Nimbus des vermeintlich Unveränderbaren, Archaischen an - eine Ansicht, die von der modernen Volkskunde nicht mehr geteilt wird.

So also geht es mit wachem Blick durchs Alphabet: Jahrmärkte, Jakobsweg, Jodeln, Johannesfeuer, Johannesminne als Beispiel für unmittelbar aufeinander folgende Stichwörter. Oder Karsamstagkohle, Katzenmusik, Kaufrufe, Kehraus, Kerbholz, Kerze. Das illustriert schön den offenen Sinn der Autorin. Den nostalgischen Touch löst das gediegene Bildmaterial ein, und auch die Feuilletons von Sepp Forcher vermitteln jenen Hauch vom Gestern, den Helga Maria Wolf mit ihren Brauch-Beobachtungen und ihrem Detailwissen erfrischend deutlich relativiert. Das sichert eine anregende, im Einzelnen sogar spannende Lektüre mit kulturellem Erkenntnis-Mehrwert.

Stichwort Tagewählerei: Martin Luther hat den Begriff geprägt, sprach sich damit gegen verbreitete Meinungen aus, dass an bestimmten Tagen gewisse Tätigkeiten zu unterlassen oder zu tun seien. Holz schlagen am 7. Oktober (weil da Salomon Bäume für den Tempel fällte) oder am 1. November, als Noah sich an den Bau der Arche machte... Nein, lieber nicht hochmütig lächeln! Es gibt genug Zeitgenossen, die sich beim Haareschneiden an den Mondkalender halten. Auch in der Volkskunde kennt man übrigens Political correctness. Das diskriminierende Wort Aberglaube wird durch Superstition ersetzt. Auch das findet man, im Buch und im Leben.

Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche - Das Buch der untergegangenen Rituale. Mit Beiträgen von Sepp Forcher. 224 Seiten, 80 Abbildungen. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2015 - www.brandstaetterverlag.com