Wort der lebendigen Jazzgötter

JAZZFESTIVAL SAALFELDEN

26/08/12 Zwischen ergrauten Querköpfen und jungen Berserkern: Das Jazzfestival Saalfelden am Freitag und Samstag auf der Hauptbühne. - Feinschliff und Forioses, ein Anflug von Kitsch und Hörstücke aus dem lebenden Museum.

Von Christoph Irrgeher

Was den guten Jazzmusiker auszeichnet, ist auch manchem Redner gegeben: das Talent zur gewitzten Reaktion. Gabi Burgstaller ließ es am Freitag aufblitzen, als der übliche Reigen honoriger Ansprachen das Jazzfestival Saalfelden eröffnete. Wünschte sich ein Sprecher des Festivals bei dieser Gelegenheit „zwei Zentimeter mehr Subvention“, gab die Landeshauptfrau recht launig grünes Licht: „In Ein-Euro-Münzen schaffen wir das locker.“ – Nun ja: Sensible Gemüter hätten diese Pointe auch in der Rubrik Hohn verbuchen können. Tatsächlich wurden im Kongresshaus dann aber keine Unmutsbekundungen laut. Der Vorredner freilich dürfte sich im Stillen gewünscht haben, er hätte lieber von Geld-Zentimetern in großen Scheinen gesprochen.

Recht pointenarm geriet leider die musikalische Eröffnung. Martin Philadelphy, österreichischer E-Gitarrist und Grenzlandvermesser zwischen Singer-Songwritertum und Experimentellem, hatte den Kompositionsauftrag des Festivals ausgefasst und zu diesem Zweck den Schlagzeuger Gustavo Costa im Schlepptau sowie Jamie Saft, US-Tastenmann mit störrischer Klangfantasie und einer Bartlänge, dass ein Taliban vor Neid ergrünt. Tatsächlich entbot der Auftritt aber weitgehend Trennkost zwischen schlicht schönen Songs, ungeschlachtem Rock und griffigen Gitarrensolos. Nur beizeiten verschwammen die Grenzen – wenn sich Rock-Konventionen und Geräuschbeiwerk zu einem psychedelischen, zwielichtigen Zwitter vereinten.

Deutlich mehr Prägnanz bringt der folgende Auftritt ins Haus. Wobei, Prägnanz? Hohes Ohrwurm-Aufkommen ist nicht drin. Wie der US-Amerikaner Ken Vandermark scherzt, rühre der Name des Stücks „29“ daher, dass er bei der Wiedergabe ebenso viele Fehler macht. Und sie sind ja auch denkbar unhandlich, die Melodien des Trios Side A: Filigrane, krause Linien huschen rasant aus dem Horn. Und wenn das Schlagzeug-Beserl dazu scharrt, wirkt das Ganze wie eine verschmitzte Bebop-Sublimierung. Markant ist es trotzdem, denn diese Herren haben ein Faible für griffige Grooves, aber keines für Großraumkompositionen. Warum noch etwas draufpacken, wenn der intensivste Punkt erreicht ist? Und aus! Das beschert der Musik auch so etwas wie aphoristische Würze. Für das intensive Moment bürgt Vandermark: In kleinen Freejazz-Fenstern  kräht seine Klarinette, als gäb’s kein Morgen, und legt Klangfarben an den Tag, die eher einer Flöte oder Steeldrums eignen.

Auf den wuchtigen Groove-Wellen eines  John Coltrane reiten die nächsten daher. Henri Texier, schon zu Olims Zeiten, richtiger: jenen von Bud Powell ein Born der Kontrabass-Energie, stürmt und drängt noch im gesetzten Alter. Blindwütig wirkt es aber nicht, wenn das Quartett des Franzosen Freejazz-Stürme entfacht; „Henri Texier 4“ verstauen die Ausbrüche sinnfältig in ihren saftigen Groove-Landschaften. Über die spannen sich immer wieder Melodien von charmanter Ethnojazz-Würze. Und wenn der Saxofonist (und Filius) Sébastien Texier zum Solo ansetzt, ist man überhaupt platt – denn der Mann geht ab wie ein Zäpfchen.

Der erste Hauptbühnen-Tag in Saalfelden also: echter, guter Saalfelden-Jazz. Sollte es der Begriff je in ein Lexikon schaffen, die Definition wäre wohl ungefähr: Tonkunst mit gesteigerter Lust am Stilgemisch – und einem Pflichtanteil freier Improvisation. Tatsächlich unterlief der zweite Tag dieses Selbstverständnis aber. Wobei der Ausbruch weniger erfrischend als bestürzend war. Denn die Geigentöne der New Yorkerin Jenny Scheinman – sie sind von gnadenloser Süße. Wer sich in ihrem Kitschpandämonium aus Country, Pop und Smoothjazzrock fadisierte, konnte immerhin ein heiteres Musik-Memory spielen. Der erste Refrain? Nah an Stings „If I Ever Lose My Faith In You“. Die zweite Melodei? Nicht fern vom „Spanish Harlem“. Die dritte? Schwamm drüber!

Und in die Kitsch-Kerbe stößt auch Pianist Giovanni Guidi. Startet das Quintett des Jungitalieners mit wuseligem Freejazz, versackt es wenig später in einer Ballade, die selbst das künstlerische Gewissen eines Kenny G in Aufruhr versetzen müsste.  Auch hier wäre das unverzügliche Einschreiten der Jazzpolizei angezeigt gewesen. Doch bei so vielen Musikgruppen ist Rettung gewiss. Schon führt die US-Gitarristin Mary Halvorson ihr Quintett Gassi, und das klingt zwar anfangs wie eine halbkaputte Mariachi-Band, schmeißt aber zunehmend druckvoll mit Stilbruch-Stücken um sich.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit aber sonnen sich andere. Das ist schon hörbar, wenn die Bühnen-Ansagerin ihre Stimme in den Dienst etlicher Namen stellen kann, von denen jeder für sich Beifall evoziert: Muhal Richard Abrams, Henry Threadgill, Roscoe Mitchell, George Lewis et cetera – Heroen der US-Avantgarde, einst Mitglieder von Abrams‘ „Experimental Band“, dem Keim der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians). Für Saalfelden hat der 81-Jährige noch einmal die Ex-Eleven zusammengetrommelt; auch neue Musik habe er geschrieben, hieß es.

Zwar handelt es sich dabei wohl nur um wenige Passagen, die in Notenform vor den ergrauten Eminenzen stehen. Die huldigen hier ja meist einem Freejazz, wie ihn die Welt seit Dezennien kennt. Dennoch: Die Kraft, den Augenblick mit tönender Unmittelbarkeit aufzuladen, hat dieses Nonett bis heute nicht verlassen. Und so beschert diese Konzertstunde dann auch im positiven Sinn ein lebendiges Museum. Die Ouvertüre mit den herben Beckenschlägen; die Quietsch-Rhapsodie, die aus dem Saxofon purzelt; das Nachtstück der irrlichternden Vibraphon- und Klaviertöne: Es handelt sich da schon irgendwie um „Komponiertes“, wenn man den Begriff nicht auf einzelne Töne bezieht, sondern Klangfarben und Energiezustände. Die reguliert Abrams mit welker Dirigentenhand, wenn er immer wieder kurz vom Klavierhocker aufsteht. Zuletzt schallender Beifall für das Wort der lebendigen Jazzgötter. Nicht weniger Beifall dürfte am heutigen Sonntag durch das Haus rauschen: Mit Pharoah Sanders beendet eine weitere Ikone das Festival.

DrehPunktKultur-Gastautor Christoph Irrgeher ist Redakteur der Wiener Zeitung - www.wienerzeitung.at
Bilder: Jazzfestival Saalfelden