Er weiß, was Flucht und Migration heißt
IM PORTRÄT / VLADIMIR VERTLIB
08/03/22 Eine osteuropäische Stadt, in der gekämpft wird, in der Bürgerkrieg herrscht – und in der ein biederer Bürger zur Zielscheibe der Rebellen wird... Schaut so aus, als ob gerade die Realität den neuen Roman Zebra im Krieg von Vladimir Vertlib einzuholen im Begriff ist.
Von Reinhard Kriechbaum
Jedenfalls ist der russisch-jüdischstämmige Autor – am Donnerstag (10.3.) Gast im Literaturhaus Salzburg – einer, dem es jetzt geht wie Millionen Menschen in der Ukraine. Er und seine Familie sind 1971 zwar nicht wegen eines Krieges aus dem sowjetischen Russland geflohen, aber ihre Reise glich nicht minder einer Odyssee. Israel, die Niederlande, die USA und Italien waren Stationen vor Wien und Salzburg.
Hierher zog Vertlib Anfang der 1990er Jahre aus privaten Gründen, er lebt aber teilweise auch in Wien. „Zufällig in Salzburg“ ist die Online-Seite der Stadt Salzburg über den 1966 im damaligen Leningrad (St. Petersburg) geborenen Vladimir Vertlib überschrieben. So wie ihm, der längst österreichischer Staatsbürger ist, wird es auch bald vielen Ukrainerinnen und Ukrainern gehen.
Sein neuer Roman Zebra im Krieg, dieser Tage erschienen im Residenz Verlag, ist nicht Fiktion. Vertlib bezieht sich auf eine wahre Begebenheit. Er richtet einen ironischen, stets von Zuneigung und Humanität erfüllten Blick in menschliche und zugleich politische Abgründe.
Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als der liebevolle Vater arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben – und wird zum wütenden Hassposter. Doch eines Tages wird Paul von Boris Lupowitsch, einem Rebellenführer, den er im Internet bedroht hat, verhaftet. Lupowitsch rechnet mit ihm vor laufender Kamera ab. Paul wird verhöhnt und gedemütigt, das Video millionenfach gesehen. Er kämpft um seine Würde, seine Familie und sein Leben …
Migration ist ein Thema, das sich durch Vertlibs literarisches Werk wie ein roter Faden zieht. Abschiebung (1995) und Zwischenstationen sind die Titel seiner ersten Bücher, eigene Fluchterfahrungen sind da eingeflossen. Abschiebung schildert den gescheiterten Versuch einer Einwandererfamilie, in den USA Fuß zu fassen. Zwischenstationen beschreibt die vorübergehenden Aufenthalte an den verschiedensten Orten der Welt. In Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur erzählt er die Lebensgeschichte einer über neuntig Jahre alten Frau: von der Kindheit im jüdischen Schtetl über die Blockade Leningrads und die Repressionen durch Vertreter des Sowjetstaates bis zur Emigration nach Deutschland in den 1990er Jahren. Die Frage nach der jüdischen Identität ist das zentrale Thema von Letzter Wunsch. oder Shimons Schweigen (2012). Als 2015 in Salzburg Tausende Flüchtlinge eintrafen, engagierte Vertlib sich als Flüchtlingshelfer. Daraus entstand sein Buch Viktor hilft (2019).
Vertlib ist dem realistischen Erzählen verhaftet. Er erzählt in einer klaren, unprätentiösen Sprache anhand von Einzelschicksalen Allgemeingültiges über die Geschichte der russischen Juden im 20. Jahrhundert. Neben schrecklichen oder unerfreulichen Ereignissen finden sich in seinen Romanen auch eine gute Portion Ironie und die farbige Ausschmückung einzelner Episoden.