Fragen wir mal Gottvater selbst

IM PORTRÄT / MARTIN REINKE

25/07/10 Bei wem soll man sich sonst über die Theologie im Jedermann informieren, als beim lieben Gott persönlich? Martin Reinke spielt die Doppelrolle „Gott der Herr/Armer Nachbar“ - und philosophiert über Irdisches und Überirdisches auf dem Theater.

Von Heidemarie Klabacher

altSeine „wahre Sphäre ist nicht das Heilige, sondern das Dämonische, nicht der Himmel, sondern die seelenfegefeuerumlohte Hölle.“ So hieß es 2008 in der FAZ zum siebzigsten Geburtstag von Hans Michael Rehberg, einem der Vorgänger von Martin Reinke im höchsten geistlichen Theater-Amt, das Salzburg zu vergeben hat: Hans Michael Rehberg erlebt man im Fernsehen ja tatsächlich nicht selten als eine Art „Teufels Stellvertreter im Kardinalspurpur“.

Die „wahre Sphäre“ von Martin Reinke dagegen lässt sich so leicht nicht dingfest machen: „Ich habe tatsächlich quer durch alle Fächer gespielt“, bestätigt Reinke. Vom Antonio (Der Kaufmann von Venedig) über den Hudetz (Der Jüngste Tag) und den König Artus (Merlin oder das wüste Land) bis zum Tambourmajor (Woyzeck) und zum Walter (Der zerbrochene Krug) reicht sein Rollenspektrum rein alphabetisch.

Mit 170 Premieren in 34 Bühnenjahren gehöre er, so Martin Reinke, „zu den Kollegen, die wohl die meisten Premieren herausgebracht haben“. Allein in den beiden Teilen von Goethes „Faust“ habe er - „außer dem Kaiser im zweiten Teil“ - über die Jahrzehnte hinweg alle männlichen Rollen gespielt: die Studenten in Auerbachs Keller, den Valentin, den Theaterdirektor, Faust und Mephistopheles sowieso - und natürlich im „Prolog im Himmel“ den „Herrn“ persönlich: „Daran sehen Sie mein Spektrum. Darauf kann ich wunderbar zurückgreifen, wenn ich jetzt in Salzburg den ‚Herrn’ im ‚Jedermann’ spiele.“

Bis 2001 waren die Rollen „Stimme des Herrn“ und „Armer Nachbar“, wie von Hofmannsthal vorgesehen, mit zwei Darstellern besetzt. Hans Michael Rehberg hat im Jahr 2002 als erster nicht nur „Die Stimme des Herrn“ beigesteuert, sondern ist als „Gott der Herr“ und „Armer Nachbar“ erstmals in Personalunion aufgetreten.

Theologisch ist dieser Schritt nahe liegend: „ Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40)“, sagt Jesus, immerhin die zweite der drei göttlichen Personen. Die Rollenkombination sei absolut stimmig, meint Martin Reinke. „In Christian Stückls Inszenierung begegnet uns der Herr in der Person des Armen Nachbarn als einer dieser geringsten Brüder, an dem der Jedermann das ‚Menschsein’ üben soll.“ Das sei, so Reinke, eine schöne, sinnfällige Idee, „dass Gott verwirklicht werden will im Menschen und durch den Menschen“.

Neben Schauspiel hat Martin Reinke auch Mathematik und Philosophie studiert. Und seine Gymnasialzeit verbrachte er in einem Kloster. Vielleicht ist sein theologischer Exkurs deshalb so bestechend: „Wo begegnen wir Gott? Seit dem Mittelalter hat man ihn aus dem Leben vertrieben, aber eigentlich begegnen wir ihm überall – dort, wo wir Farbe bekennen müssen: Dort, wo wir an den Armen Nachbarn vorbeilaufen.“

Es gelte eben, sich zu entscheiden zwischen Gott als einer „ Idee, über die sich streiten lässt“, und Gott als einer „ Aufgabe, die ganz konkret verwirklicht werden will“. Die Rollenkombination steht für diesen Gedanken: „ In dem Armen Nachbar zeigt Gott sich als des Menschen Ebenbild. Jedermann soll sich an ihm bewähren. Aber er tut es nicht. Er sieht den Auftrag nicht, er sieht nur, was es ihn kostet.“

Das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ auf dem Domplatz „zieht“ wie eh und eh. Kritiker verbrennen Weihrauch oder verschütten Häme - aber der „Jedermann“ ist ausverkauft. Nicht unverständlich, findet Martin Reinke: „Erstens ist Hofmannsthals Stück eine großartige Komposition. Und wie in allen Stücken, die formal so streng komponiert sind, überlebt die Musik der Sprache.“ Das sei wie etwa bei Calderon: „Nehmen Sie ‚Das Leben ein Traum’: Solche Meisterwerke werden allein schon der ‚Komposition’ wegen gespielt.“

Die Ästhetik sei aber nur der äußere Grund, dass sich ein Werk im Repertoire halte. „Alle diese großartigen Stücke haben in ihrem Kern eine Botschaft, die uns alle angeht.“ Und gerade der „Jedermann“ sei, so Martin Reinke, noch stärker als viele andere Bühnenfiguren, „ein Mensch, der uns alle vertritt, der sich auf seine Bestimmung besinnen und der sein Rechenbuch mitbringen soll“. Hier findet sich letztlich jede High- oder sonstige Society wieder: „Ob Selbstverwirklichung nicht heißen könne, den alten Gott, den wir über Bord geworfen haben, im Mitmenschen neu zu verwirklichen?“

Salzburg habe er bis zum „Jedermann“ als Akteur bisher „leider nicht“ gekannt.“ Dafür waren ihm die meisten Kolleginnen und Kollegen der jetzigen „Jedermann“-Besetzung schon bestens bekannt: „Nicholas Ofczarek, Birgit Minichmayr - wir kennen uns ja alle aus dem aus dem Burgtheater.“

Es sei klug gewesen, auf Peter Simonischek mit Nicholas Ofczarek einen ganz und gar „anderen“ Jedermann-Typ zu verpflichten. „Jedermann steht in einer mittleren Phase des Lebens. Das ist heute eine große Spanne zwischen Dreißig und Sechzig: Jedermann ist der tätige Mensch.“ Das Alter sei dabei überhaupt nicht entscheidend, meint Martin Reinke. „Simonischek, Ofczarek und ich - wir spielten ja alle drei am Burgtheater in Calderons ‚Das Leben ein Traum’.“ (Martin Reinke den Aufseher Clotald, Peter Simonischek den König Basilius und Nicholas Ofczarek dessen Sohn Sigismund.) „Wenn man Vater und Sohn zusammen auf der Bühne sieht, sind sie beide ‚Jedermann’: Mitten im Leben stehend, vor Kraft strotzend …“

Martin Reinke wurde 1956 in Hamburg geboren. Sein Debüt gab er im Zimmertheater Hamburg. Die ersten Stationen seiner Bühnenlaufbahn waren das Stadttheater Heilbronn und die Vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach. In Bremen begann die Zusammenarbeit mit Günter Krämer. Als Mackie Messer in Krämers legendärer „Dreigroschenoper“ spielte er in Berlin, Hamburg, Köln, Tokio und Spoleto. Seit 1990 ist Martin Reinke Ensemblemitglied am Schauspiel Köln. Seit 2006 gehört er zudem fest zum Ensemble des Wiener Burgtheaters.

Bild: www.martinreinke.de