Wahre Größe kennt keine Zahl

KOMMENTAR

Von Heidemarie Klabacher

09/06/20 „Es ist die Dimension der Festspiele der Sechzigerjahre. Das Maß, das die Festspiele groß gemacht hat.“ Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser ist überzeugt, dass sich in der Kultur nach der Krise etwas ändern wird. „Vom Fetisch der ständigen Rekorde werden wir uns vielleicht verabschieden müssen.“

Mehr Karten. Mehr Besucher. Mehr Termine. Noch mehr Stars. Dem „Schneller. Höher. Weiter“ hat Corona einen temporären Riegel vorgeschoben. Dass in der Wirtschaft – Stichwort heimische Produzenten – ein längerfristiges Umdenken passieren wird, darf bezweifelt werden. Ob es in der Kultur dazu kommen wird? Was, wenn nicht länger ganze Orchester um den Erdball jetten – auf dass über dem Atlantik Wiener Philharmoniker und Pittsburgh Symphony Orchestra quasi aneinander vorbeifliegen, um jeweils am anderen Ende der Welt die gleichen Werke zu spielen? Darf man den Europäern den charakteristischen Sound amerikanischer Trompeten und den Amerikanern den unverwechselbaren Klang der Wiener Pauke vorenthalten? Muss jeder Festspielsommer zwingend den Vorjahresrekord an aufgelegten Karten und Einspielergebnissen übertreffen?

„Unter dem Vorrang der Sicherheit künstlerisch Sinnvolles und wirtschaftlich Vertretbares erreichen.“ So umschrieb Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler bei der Präsentation des „modifizierten“ Festspielprogramms 2020 heute Dienstag (9.6.) die Zielvorgabe des Direktoriums. Daran ist nichts Kleinmütiges. Das Programm ist delikat und anspruchsvoll. Im Schnitt finden von 1. bis 30. August jeden Tag immer noch drei Veranstaltungen statt. Also auch keine Schmalspur, im Gegenteil. Mit dem Beethoven-Zyklus von Igor Levit, „dem bedeutendsten Beethoven-Pianisten seiner Generation“, wie Markus Hinterhäuser ihn bezeichnete, oder der feinen Reihe zeitgenössischer Musik Fragmente der Stille in der Kollegienkirche setzen die Festspiele Maßstäbe auch in der Beschränkung. Nur eine Institution dieses Kalibers kann ein paar Wochen vor Beginn eine Opern-Neuproduktion völlig neu angehen. Così fan tutte wird auch im bescheidenen Bühnenbild betören.

Die Sache mit den „Rekorden“ war tatsächlich schon beim Bau des Großen Festspielhauses strittig, erinnerte Präsidentin Rabl-Stadler: Bernhard Paumgartner sei strikt dagegen gewesen, weil ein Bau dieser Größe der Intimität der Stadt widerspräche. „Doch ohne das Große Festspielhaus wären die Festspiele nie das geworden, was sie sind.“ Den Intendanten Gerard Mortier habe einst gestört, dass man keine Festspiel-Karten mehr bekommen könne, wenn man spontan nach Salzburg reise, „weil alle Leute schon im Dezember buchen und alles ausverkauft ist“. Man hat den Mortier'schen Tonfall noch im Ohr. In seiner Intendanz sei die Zahl der aufgelegten Karten von 180.000 auf 250.000 gestiegen, so Helga Rabl-Stadler. Dann sei Alexander Pereira gekommen, der „unbedingt wollte, dass wir olympische Höhen erreichen“. Gut, dass diese „Ära“ zeitlich begrenzt war.

„Doch wenn man sieht, dass die Leute tatsächlich kommen“, so die Präsidentin, wolle man sich gar nicht beschränken: Unvergleichlich sei die Atmosphäre, „wenn bei acht Vorstellungen am Tag“ im Festspielbezirk die Publikumsströme beginnender und endender Veranstaltungen in den Festspielhäusern und die Pausengäste aus der Felsenreitschule einander in der Hofstallgasse begegnen. Darauf wolle sie auch in Zukunft nicht gerne verzichten.

Die Festspiele 2020 müssen ohne Eröffnungsfestakt auskommen. Am 8. März seien Markus Hinterhäuser und Rabl-Stadler noch nach London geflogen, um mit der potentiellen Festrednerin zu sprechen, der 94jährigen Cellistin und Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch. Diese betagte Persönlichkeit sei das „personifizierte Zeichen“ für die Kunst nach der Katastrophe. Freude und Erwartung seien Anfang März, „noch größer gewesen, als das das mulmige Gefühl“. Nun gibt es zwar keinen Festakt zur Eröffnung, aber die Zeitzeugin Anita-Lasker Wallfisch, sie spielte in der der NS-Zeit im „Mädchenorchester von Auschwitz“, kommt dennoch nach Salzburg - als eine von vier Rednerinnen in der Reihe „Reden über das Jahrhundert“. Und wenn es wegen der Corona-Reisebeschränkungen doch nicht klappt: „Dann wird sie über Zuspielung zu uns sprechen.“ Das ist Größe.

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