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Familienaufstellung mit Bodennebel

FESTSPIELE / IPHIGENIA

19/08/22 Von Kind an ist sie vom Onkel missbraucht worden. Jetzt beschließt die junge Frau, ihrer vorbestimmten Pianistinnen-Karriere Adieu zu sagen. Sie bricht sich selbst ihre Finger. Man schaut zweifelnd ins Programmheft. Ja doch,wirklich Iphigenia. Joanna Bednarczyk hat den Stoff des Euripides (und Goethes) frei, sehr frei überschrieben.

Von Reinhard Kriechbaum

Agamemnon ist Ethikprofessor. Druckfrisch sein Buch über Täter und Opfer, über Moral- und Beziehungsfragen. Was er in diesem Moment am allerwenigsten brauchen kann, ist negative Publicity, ein „Fall“ in der eigenen Familie. Was Iphigenia widerfahren ist durch ihren Onkel Menelaos, einen windigen Lebemann ohne jede Einsicht, muss also vertuscht werden auf Biegen und Brechen – aber Iphigenia ist nicht mehr bereit, sich verbiegen zu lassen. Sie lässt sich nicht brechen, knackt eher ihre zarten Pianistinnen-Finger.

Wie man den Iphigenie-Mythos ganz neu und heutig greifen könne, haben sich Joanna Bednarczyk und die Regisseurin Ewelina Marciniak gemeinsam gefragt, und sind bei #metoo gelandet. Bei Euripides schwört Agamemnon, seine Tochter zu opfern (was dann doch nicht geschieht). Welchem Gott könnte ein Agamemnon unserer Tage huldigen, ihm ein Menschenopfer gar versprechen? Das eigene Fortkommen taugt allemal zu einem solchen Götzen.

Der Karriere wegen eine junge Frau zum Schweigen zu bringen, das gibt schon eine Geschichte her. Sie will nur mit starker Theaterpranke erzählt sein. Nun hat Joanna Bednarczyk aber in ihrer polnischen Heimat Psychologie studiert. Iphigenie und die Mythen-Menschen um sie herum hat sie als Seelen-Sachkundige profund durchleuchtet, mit weiblicher Empathie und vor allem mit wissenschaftlichem Sachverstand. Es ist, wie man in elendslang sich hinziehenden zweieinhalb Stunden auf der Halleiner Pernerinsel nun erfahren musste, alles andere herausgekommen als ein glutvoller Theatertext. Viel geduldiges Papier.

Familienaufstellung bei den reichlich blasierten Atriden, da hat man wahrhaft zu tun. Gleich am Beginn – Iphigenia tändelt mit Freund Achilles, einem Fußballer, herum – werden uns die Protagonisten vorgestellt. Die bunteste Hündin ist Helena (Lisa-Maria Sommerfeld), eine Allegorie unerfüllter und darob leicht exaltierter Weiblichkeit. Sie und ihr (Lebe)Mann Menelaos (Stefan Stern) – da sind zwei Grundfalsche aneinander geraten, die an sich und ihren Erwartungen scheitern. Im Gegensatz zu Helena hat sich Klytaimnestra (Christiane von Poelnitz) familiär arrangiert. Gefühle sind für sie nur mehr äußerlicher Zierrat. Ist Agamemnon ein liebender Familienvater? Sebastian Zimmler führt uns einen Yuppie-Wissenschafter vor, der vernarrt scheint in seine Tochter – aber verliebt ist er wohl nur in sich und seine Arbeit. Weit ist's bei ihm nicht her mit Empathie.

Des Langen und des Breiten werden uns diese Leute im Wortsinn vorgeführt. Wie viele psychoanalytische Sitzungen machen wir da als Publikum eigentlich mit? Was schwerer wiegt: Es kommen samt und sonders Klischeefiguren heraus. Die Rollenbilder wirken verfestigt, keine und keiner bricht jemals aus den zu erwartenden Verhaltensmustern aus. Hat uns Joanna Bednarczyk zeigen wollen, wie simpel Menschen gestrickt sind? Das wäre eine fatal-banale Weiterschreibung eines großen Mythos.

Für die Titelrolle braucht's zwei, Rosa und Oda Thormeyer. Im Leben Mutter und Tochter, auf der Bühne wechselseitig Alter ego der anderen. Iphigenia, die Junge (Oda): Sie sitzt am Klavier und klimpert unanimiert ein paar Töne, wird sich dann selbstzweifelnd und alsbald auch selbstbewusst geben, aber immer irgendwie quasi neben sich selbst agieren. An psychologischer Tiefenzeichnung fehlt es in dieser Rolle nicht. Die ältere Iphigenie (Rosa): Die holt manchmal zu furchterregenden Monologen aus, in denen sie die ohnedies klare psychische Lage des Missbrauchsopfers nochmal darlegt. Gut gemeint von der Autorin, aber doppelt gemoppelt!

Zuletzt trifft sich die Gesellschaft auf der Insel. Mit Rollkoffer und Badeutensilien reisen sie an. Iphigenia ist jetzt Leiterin eines Hotels. Neue Generation, aus Agamemnon ist Toas geworden, aus Menelaos Orests Gefährte Pylades. Klytämnestra wirkt verhärmt, Helena durchgeknallt wie eh und je. Achilles ist nun zu Orest mutiert, einem gelangweilten Bonvivant. So trifft er auf seine gealterte Schwester Iphigenia, und da haben Rosa Thormeyer und Jirka Zett einen Dialog, der als einziges an diesem Abend nahe geht: Wie da Bruder und Schwester jeweils in die Haut des anderen zu schlüpfen und sich zu erinnern versuchen an eine unbeschwerte Kindheit – ja, so könnte man den Stoff packen und packend ins Heute drehen. Aber da müsste ihm erst alle knöcherne Psychologisiererei ausgetrieben werden, die einem diesen Theaterabend so vergällt.

Regisseurin Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk sind vertraut miteinander. Ewelina Marciniak hat wohl gespürt, dass es für den papierenen Text der Kollegin Vernebelung braucht. Dieser Nebel streicht immer wieder in Bodennähe um die Beine der Darsteller und des Klaviers, des einzigen Ausstattungsstücks auf der Bühne. Diese hält nur noch eine riesige, oft in Schräglage gehaltene Spiegelfläche bereit.

Intensives Körpertheater ist ein Markenzeichen der Regisseurin. So lässt Ewelina Marciniak immer wieder mit heftiger Bewegung der ausgedörrten Psychoanalyse gegensteuern. Das sieht szenenweise schon gut aus, Licht und Choreographie tragen das Ihre bei. Könnte übrigens gut sein, dass diese neue Iphigenia (eine Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg) als Kammerspiel besser funktionierte denn im Riesenraum auf der Pernerinsel.

Ach ja, bevor's auf die Insel geht, ist noch ein ganz langer Umbau nötig, eine Demontage der halben Spielfläche. Und ein Umschminken und Umkleiden der Darstellerinnen und Darsteller auf offener Bühne. Diese Zeit überbrückt Menelaos/Stefan Stern, indem er etwas erzählt von den eigenen Gefühlen und jenen des Teams beim Proben, angesichts von #'metoo und dem Thema Menschenopfer. Es bleibt einem wirklich nichts erspart an dem Abend.

Weitere Vorstellungen am 19., 21., 23., 24., 26., 27. und 28. August auf der Pernerinsel in Hallein – www.salzburgerfestspiele.at  
Bilder: Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
Zur Hintergrund-Geschichte Iphigenies heutige Probleme und Aussichten

 

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