Mit dem Fahrrad zur Rettung von Domingo
HINTERGRUND / 25 JAHRE FESTSPIEL-MEDIZIN
16/08/21 Der junge Mediziner war gerade ein halbes Jahr an der HNO-Abteilung im LKH Salzburg tätig, aber sein besonderes Interesse an der Sängerstimme hatte sich schon herumgesprochen. Da ereilte ihn ein Anruf aus dem Festspielhaus: Placido Domingo hat keine Stimme!
Von Reinhard Kriechbaum
Das war 1992. Josef Schlömicher-Thier packte seine sieben Sachen, unter anderem Stirnlampe und Kehlkopfspiegel, und schwang sich aufs Fahrrad. „Domingo war mein erster Patient hier, das war meine Feuertaufe“, erinnert sich der „Festspiel-Doc“, wie man im Haus zu ihm sagt. Damals wurde seitens der Festspiele der Wunsch laut, einen Arzt im Haus zu haben. Nicht nur für Opern-Notfälle. Josef Schlömicher-Thier ist ja nicht nur HNO-Facharzt mit spezieller Kompetenz für die Sängerstimme, sondern auch Arbeitsmediziner. Wer sich mit dem Hammer auf den Daumen klopft, findet bei ihm also auch Gehör.
Der Festspiel-Doc (das ist er jetzt seit 25 Jahren) ist also nicht nur für die Künstler da. Auch wenn das der spektakulärere Teil seiner Arbeit ist. Akutfall heuer: Zwei Tage vor der Premiere von Richard the King & the Kid war die Hauptdarstellerin Lina Beckmann total heiser. „Mit Stimmruhe, dann gezielten Stimmübungen und starken Medikamenten haben wir das hinbekommen“, sagt Josef Schlömicher-Thier (er erzähle das mit Erlaubnis der Schauspielerin, betont er). Die Premiere war gerettet. „Es ist gut ausgegangen, wir hätten keinen Ersatz gehabt.“
Ein Ampelsystem hat der Stimm-Spezialist eingeführt: Bei Gelb signalisiert er der Festspielleitung, dass man einen Einspringer zumindest im Talon haben sollte. Und bei Rot ist eine Umbesetzung unumgänglich. „In den 25 Jahren musste nicht eine Vorstellung abgesagt werden.“
Wie wird man Stimmarzt? Schelmisch erzählt Josef Schlömicher-Thier von einem Traum. Damals war er Bierbrauer in Graz (sein erster erlernter Beruf), „im Traum sah ich ein Opernhaus mit weißen Dächern und sah mich als Stimmarzt dort.“ Sydney ist es dann doch nicht geworden, „nur die Festspiele“. Jedenfalls wurde er HNO-Facharzt und studierte auch Gesang – was ihm doppelt Einblick in die Sänger- oder Schauspielerstimme bringt und bei den Künstlern auch Zutrauen schafft.
Eine Stärke von Josef Schlömicher-Thier ist das Netzwerken: Vor 25 Jahren hat er nicht nur seinen ersten Arbeitsvertrag bei den Festspielen unterschrieben, sondern auch das AVI, das Austrian Voice Institute gegründet. Da war von Anfang an der Salzburger Gesangslehrer Reinhard Schmid dabei. „Wir sind Wissens-Nomaden, die mit Spots herumziehen und gemeinsam neues Terrain ausleuchten.“ Es spiele ja viel mit beim Singen, erklärt Schmid, die Körperkonstitution, die organische Gesundheit und nicht zuletzt der psychogene Bereich. Im Netzwerk des AVI sind für viele Teilbereiche Fachleute zur Hand. „Mit dem AVI habe ich meine eigene Fach-Universität aufgebaut“, formuliert es Josef Schlömicher-Thier. Jedes Jahr gibt es im Festspielsommer ein Fachsymposion, natürlich auch heuer.
Seit anderthalb Jahren ist der Festspiel-Doc freilich mehr mit Covid befasst als mit Blutungen auf den Stimmbändern und dergleichen. Ob er Sänger kennt, die Covid hatten? Natürlich, „und einige leiden an Long-Covid“. Kurzatmigkeit ist fatal in einem Beruf, wo es auch auf den langen Atem ankommt. Der Festspiel-Doc zieht ein Glasfläschchen heraus, das aussieht wie die Miniaturausgabe einer türkischen Wasserpfeife. „Ein Berliner Kollege hat das als Prototyp entwickelt.“ An einem Schnabel kann man hineinblasen, am anderen saugen, und der Wasser-Widerstand trainiert Zwerchfell und andere Muskeln. Solche Früchte trägt also das Netzwerkern von Fachleuten im AVI.
Haben eigentlich andere große Bühnen auch ihre „Docs“ á la Schlömicher-Thier? „Ja freilich“, sagt er. „In der ganzen Welt“, von der Met bis zu Covent Garden, habe er Fachleute aufgestöbert. „Im Verein der Welt-Stimmärzte bin ich Sekretär.“ Er habe ja mit Künstlern zu tun, die heute da und ein paar Tage später auf einem anderen Kontinent auftreten. „Die darf man nicht ins Nirvana schicken.“ Da werden also Befunde und Therapievorschläge vorausgeschickt und so ein medizinisches Fangnetz aufgebaut.
Anekdoten jenseits der Schweigepflicht des Mediziners? Da fällt dem Festspiel-Doc ein tschechischer Chorsänger mit Persönlichkeitsstörung ein. Der Knabe hielt sich für Domingo und man musste ihn hinter der Bühne gut bewachen, dass er nicht on stage enteilte zum großen Solo...