Die ganze Welt in einer Bagatelle

FESTSPIELE / SOLISTENKONZERT LEVIT

05/08/19 Die Variation sei seine liebste musikalische Form, sagte jüngst der Pianist Igor Levit. Beethovens Diabelli-Variationen habe er wohl schon vierhundertmal gespielt. Das 401. Mal im Solistenkonzert am Sonntag (4.8.) war für die Zuhörerin jedenfalls wie das erste Mal: Noch nie hat sich der pianistische und emotionale Gehalt der 33 Miniaturen so eindrücklich erschlossen.

Von Heidemarie Klabacher

Hat sich Beethoven mit diesen Virtuosenstücken im Miniaturformat lustig gemacht über das von Anton Diabelli vorgegebene recht simple Thema ? Wird schon sein, wenn die Musikwissenschaft das so erforscht. Igor Levit jedenfalls hat mit den 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli op. 120 – Diabelli-Variationen ein scheinbar bekanntes Werk in völlig neues Licht gerückt. Hat Tiefendimensionen erschlossen, die man bisher nur Kalibern wie op. 111 oder einer Waldstein-Sonate zugetraut hat.

Was beschreiben? Die federleichte Fughetta? Das traum- und harmonieverloren schöne Andante sempre cantabile der dreißigsten Variation? Das Grave e maestoso der vierzehnten, das Igor Levit vom schwebenden Klang im Piano zum klaren Forte und wieder zurück auf eine Linie entwickelt hat... Tatsächlich ist alles, was man an Tiefe, Komplexität und purer Schönheit in den „großen“ Klavierwerken enthalten weiß, auch und genau so intensiv in der kleinen Form enthalten.

All das gilt genau so für die Sechs Bagatellen op. 126, die Beethoven 1824 als Zyklus komponiert hat. Im Gegensatz zu den Elf neuen Bagatellten für Klavier op. 119, die er 1822 als (vom Verleger letztlich abgelehntes) Auftragswerk aus Einzelstücken zusammengestellt hat: Mit diesen deutlich kürzeren aber ebenso brillanten Stücken op. 119 hat vor wenigen Tagen Grigory Sokolov begeistert. Wie schön, dass sich in der Salzburger Konzertdramaturgie über das Programm der einzelnen Künstler hinweg solche Werkgruppen neu erschließen.

Ziemlich singulär im Konzert-Betrieb und auch tatsächlich noch nie gehört: das Adagio aus der Symphonie Nr. 10 Fis-Dur von Gustav Mahler in der Bearbeitung für Klavier von Ronald Stevenson. Mehr als das eröffnende Adagio und zahlreiche Einzelstimmen-Skizzen hat Mahler von seiner Zehnten nicht hinterlassen. Der geschäftstüchtige Gedanke Alma Mahlers, die Symphonie „fertigstellen“ zu lassen empörte alle Komponisten, an die sie dieses „schamlose Ansinnen“ gestellt hat oder die auch nur davon erfahren haben.

Die Klavierbearbeitung von Ronald Stevenson aus dem Jahr 1986 will Mahlers 1910 geschriebenes Adagio nicht vollenden. So wie Igor Levit das spielt, ist die Klavierfassung der respektvolle Versuch, Mahler'sche Motivik, Technik und vor allem Atmosphäre vom Sound für Großes Orchester auf den intimen Sound des Klaviers zu übertragen. Ein anderer als Igor Levit würde weder diese vielen Facetten des Pianissimo herausbringen, noch – und schon gar nicht – die in feinsten Nuancen changierenden Klangfarben. Wie erhelldend und welches Privileg, diese „Fassung“ in der Wiedergabe von Igor Levit kennenzulernen.

Die Fünfte Mahler ist ja nun vollendet genug. Ihr Herzstück, eine Klavierfassung des Adagiettos, spielte Igor Levit als „Zugabe“. Was soll man, sonst kein Freund von Fassungen für..., dazu sagen? Hätte Levit nur das Adagietto in der Klavierfassung von Otto Singer jr. gespielt, wäre der Abend ebenfalls abgespeichert worden in der Kategorie der unvergesslichen.

Bild: SF / Marco Borelli