Abschied mit schwarzem Humor

FESTSPIELE / LONDON SYMPHONY ORCHESTRA / RATTLE (2)

22/08/18 Ob nun die „Neunte“ wirklich Mahlers Abschied von der Welt ist oder nicht eher die weitgehend vollendete „Zehnte“, ist die Frage. Auf jeden Fall ist sie ein Stück des Rückblicks und der Metamorphose. – Unter Sir Simon Rattle im zweiten Konzert des London Symphony Orchestra.

Von Gottfried Franz Kasparek

Die emotionalen Wechselbäder des ersten Satzes, die burlesken Parodien der Mittelsätze, der ergreifende Gesang des Finales sind aufregend geblieben, deuten sie doch in ihrer harmonischen Spannung, in ihrer bis an die äußersten Grenzen der Tonalität gehenden Experimentierlust, in ihrem unbekümmerten Umgang mit Zitaten weit in die Zukunft.

Ein Abgesang auf tonale Freuden und Leiden, gar auf romantische Gefühle? Von heute aus betrachtet, nicht wirklich. Da würde man die Rechnung ohne einen Jean Sibelius, auch ohne einen Franz Schmidt oder Arnold Bax, ja sogar ohne Béla Bartók und Dmitri Schostakowitsch machen. Die Zukunft hat sich als vielfältiger erwiesen, als die Schönberg-Schule es wahrhaben wollte und manche Apostel der seriellen Musik es bis heute akzeptieren wollen. Wesentlicher ist wohl, dass mit diesen gewaltig lauten und erschütternd leisen Tönen das alte Europa vor 1914 zu Grabe getragen wurde.

Wenn Mahler im Kopfsatz der „Neunten“ den Walzer „Freut euch des Lebens“ von Johann Strauss Sohn nachempfindet oder im Scherzo gar den Schlager „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ aus Franz Lehárs „Lustiger Witwe“ zitiert, ironisiert, als scharfes Kontrastmittel einsetzt, dann hat dies keinen die Vorlagen denunzierenden, sondern autobiographischen Sinn – man setze nur die Titel dieser Stücke in Bezug zum Leben des Komponisten. Mahler nimmt nicht tränenselig, sondern sehr bewusst, zeitkritisch und mit schwarzem Humor Abschied von seiner Welt. Genau dies arbeitet Simon Rattle, der auswendig dirigiert, mit hartem Meißel heraus.

Das London Symphony Orchestra ist ein wahrer Hochglanzapparat von Orchester. Alle hell-dunklen Farbschattierungen, alle durch Mark und Bein fahrenden, dissonanten Ballungen, alle dumpfen Abstürze ins Bodenlose samt alsbald trotziger Erhebung daraus erscheinen in strahlend kaltem Licht. Man könnte jetzt nicht nur den lyrische, geradezu wienerisch verträumte Inseln schaffenden Konzertmeister, die famosen Solisten mit Bratsche und Cello, die sonoren Bässe, die grandios differenzierenden Holz- und Blechbläser, das perfekte Schlagzeug, die erstaunlich markanten Harfen namentlich loben. Denn diese Symphonie ist ja auch ein Glanzstück an Kammermusik innerhalb des riesigen Apparats. Die massiven Zusammenballungen und schneidenden Rhythmen machen größten Effekt, die sensibel austarierten Zwischentöne erzeugen zwingende Atmosphäre.

Und dann das weit atmende Adagio. Ganz ohne falsche Drücker, ganz ohne allzu viel Sentimentalität, aber auch ganz ohne bloß analytische Tonmalerei. Rattle und sein Orchester gestalten ein inniges, immer wieder aufrauschendes, melancholisches Singen der Instrumente.

Am Ende erlebt man das schönste und bezwingendste Pianissimo, das sich denken lässt – und hört im Großen Festspielhaus die sprichwörtliche Stecknadel fallen. Das geht also doch. Dem Maestro gelingt es, nach dem letzten Verklingen noch Momente der Stille zu schaffen. Dann bricht der Jubel desto ungehemmter los.

Bild: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli