Dr. Hohenadl kämpft gegen Fehler

SATIRE

03/10/23 Dr. Hohenadl war keineswegs humorlos. Darum musste er schmunzeln, als er in einer renommierten Zeitung las: „Nach der Todesangst, das kann jeder Verstorbene bestätigen, stellt sich eine große Gelassenheit ein.“

Von Werner Thuswaldner

Im ersten Moment freute ihn die Formulierung, weil die Zeitung den Mut zu haben schien, die Leserschaft hie und da ein wenig zu übefordern. Im zweiten aber nicht mehr. War es für die Zeitung, die voller rigoroser, selbstsicherer Urteile über Menschen und die Verhältnisse war, tragbar, den Abonnenten einen solchen Lapsus zuzumuten? Er saß im Kaffeehaus, als er auf diesen Satz stieß. Obwohl ihm die Zeitung nicht gehörte, machte er, weil er gerade einen Bleistift in der Hand hielt, eine Wellenlinie unter den Satz. Er wollte verhindern, dass andere Leser und Leserinnen den Unfug einfach übersahen. Kurz überlegte er, ob er der Zeitung nicht einen Brief schreiben sollte.

Wenig später kam Dr. Hohenadl in einem Roman ein Wort unter, bei dem er stutzte. Hier stand etwas von einem „politischen Einfallspinsel an der Spitze des Staates“. Das war verstörend, denn der Verlag genoss hohes Ansehen und brachte die Werke der besten Autorinnen und Autoren des Landes heraus. Es blieb nicht bei diesem einen Fehler in dem Buch. Dr. Hohenadl fand auf einer der letzten Seiten auch noch den Satz: „Der Mörder trank die Bulle in einem Zug aus.“ Er hätte fast drüber hinweggelesen, denn die Szene spielte tatsächlich in einem Zug.

Vielleicht war das ein „Montagsroman“, so wie man bei Autos von einem „Montagsauto“ spricht. Nach einem bewegten Wochenende sind die Monteure unaufmerksam, es unterlaufen ihnen Fehler, mit denen dann der Käufer des Autos seine liebe Not hat. Ähnlich mag es beim Lektor oder der Lektorin des Romans gewesen sein. Abgelenkt durch persönliche Sorgen übersahen sie das eine oder andere orthografische Vergehen.

Diesmal hielt ihn nichts zurück, einen Brief zu schreiben. Aber er formulierte zurückhaltend, kein bisschen auftrumpfend. Das Entschuldigungsschreiben kam prompt. Und dazu ein Gutschein für ein anderes Buch – „einen hoffentlich fehlerfreien Roman“, wie es im Brief hieß – aus dem Verlag. Dr. Hohenadl freute sich darüber, einen Gewinn gemacht zu haben, denn das Buch mit den Fehlern stammte aus den Städtischen Büchereien, er hatte dafür nichts bezahlt.

Das beflügelte ihn weiterzumachen. Er konnte gar nicht anders. Auf Plakaten, in Mails, vor allem in Mails, in öffentlichen Verlautbarungen, auffallend häufig in bestimmten Zeitungen, sogar auf Gedenktafeln und Transparenten stieß er auf haarsträubende Fehler. Gegen die oftmals falsch zu hörende Aussprache eines Wortes oder eines Namens in Radio und Fernsehen ging er erst gar nicht an. Er beschränkte sich auf Schriftliches. Der Computer schien die Schreiberinnen und Schreiber zu Fehlern geradezu zu verleiten. So zum Beispiel wurden die einfachsten Wörter wie auf, schief, oben, mit, seit usw. ohne erfindlichen Grund großgeschrieben.

Dr. Hohenadl kam mit dem Korrigieren gar nicht nach. Zumal er ja immer auch die Briefe schreiben musste, um an die Schreiber und Schreiberinnen zu appellieren, sich doch ein wenig mehr am Riemen zu reißen. Er sah sich ganz und gar nicht als Fanatiker, als Nörgler vom Dienst, sondern achtete strikt darauf, sachlich zu bleiben. Auf keinen Fall wollte er mit den gewöhnlichen Sprachpolizisten auf eine Stufe gestellt werden. Er war sogar selbstkritisch genug, sich zu fragen, ob er sich freute, wenn er einen Fehler fand oder ob es ihn bekümmerte, weil es ja doch ein Verstoß gegen die Kultur war, an der festgehalten werden müsse. Zu Übertreibungen oder scharfen Tönen wollte er sich in seinen Briefen an die verschiedenen Personen und Institutionen, die er bei groben Fehlern ertappt hatte, auf keinen Fall hinreißen lassen. Den Untergang des Abendlands sah er nicht wie andere heraufdämmern.

Die Reaktionen auf seine Interventionen fielen unterschiedlich aus. Manche antworteten gar nicht. Einige bedankten sich höflich und entschuldigten sich. Hie und da gab es auch rüde Zurückweisungen und Beschimpfungen. Werbeagenturen bildeten eine eigene Kategorie. Sie antworteten frech und dümmlich und produzierten in diesen Briefen auch gleich wieder eine Latte von abstrusen Fehlern. Die Sprache unzumutbaren Überdehnungen auszusetzen, schien Bestandteil ihres Gewerbes zu sein. Oberflächliche Englischkenntnisse waren eine Voraussetzung für Werbefritzen, weil sich nur so reichlich unfreiwilliger Humor erzeugen ließ. Dr. Hohenadl setzte sich mit ihnen nicht ernsthaft auseinander, sondern spielerisch.

Dr. Hohenadl kam es mit der Zeit vor, als würde er auf der Stelle treten. Um etwas zu bewirken, musste er an die Wurzeln gehen. Wenn es ihm nicht gelingen würde, die Jugend zu erreichen, blieben alle seine Bemühungen sinnlos. Aber pflegten die jungen Leute in ihren sozialen Netzwerken nicht längst ihre eigene Sprache? In ihren Kurzmitteilungen folgten sie doch ganz neuen Regeln.

Dr. Hohenadl suchte den Kontakt zu einem Deutschlehrer, den er von früher flüchtig kannte. Moritz Mitterwurzer, ein Tiroler mit halbwegs gelungener Integration in Wien – die tirolerischen Röchellaute in seiner Aussprache waren nur bei genauem Hinhören zu merken -, war Deutschlehrer am Amerlinggymnasium im sechsten Bezirk.

Die Kommunikation mit ihm fiel Dr. Hohenadl nicht leicht, weil der Mann, wenn sie einander gegenübersaßen, häufig grinste und dabei in furchterregender Weise die Zähne fletschte. Mitterwurzer war so fortschrittlich, dass seine Schüler auf die eigene Handschrift verzichten durften und alles Schriftliche mit dem PC vor ihrer Nase erledigen konnten. Dr. Hohenadl fragte ihn, welche Erfahrungen er mache, wenn es um das Verfassen ein wenig längerer Texte ging. Mitterwurzer verstand ihn zunächst nicht.

„Fehlerhäufigkeit? Ach was, Fehler. Das ist nicht mehr wie früher. Rechtschreibung, wenn Sie das meinen, ist heutzutage weitgehend Glücksache.“

„Aber ist es nicht so, dass der Computer von sich aus Fehler mit einer roten Wellenlinie markiert?“

„Oh ja, das tut er, aber davon lassen sich Schüler nicht besonders beeindrucken.“

Dr. Hohenadl hatte das vermutet und auch schon nach einem Lösungsvorschlag gesucht. Mitterwurzer war, wie er herausfand, bei weitem nicht so liberal, wie er tat, sondern sehnte die alten Zeiten zurück, in denen noch Ordnung geherrscht und die Unterscheidung zwischen falsch und richtig gültig gewesen war. Mit wachsender Anteilnahme hörte er Dr. Hohenadl zu.

„Die rote Wellenlinie“, klagte Mitterwurzer, „registrieren die Schüler kaum noch als Hinweis auf einen Fehler, sie nehmen sie vielmehr als eine willkommene Verzierung ihres Textes wahr, als eine Art Schmuckleiste.“

Das gab Dr. Hohenadl zu denken und das veranlasste ihn bei seinem nächsten Treffen mit Mitterwurzer mit einem zugkräftigeren Vorschlag aufzuwarten. „Die rote Wellenlinie ist zu schwach. Das sehe ich ein. Sie kann von mir aus weiterhin als Hinweis auf einen Fehler dienen, aber dazu muss zur Verstärkung ein akustisches Signal kommen, verstehen Sie mich? Man sagt doch nicht von ungefähr: ,Die Alarmglocken läuten hören‘. Klingeltöne kennen sie ja durchaus von ihrem Umgang mit dem Handy.“

Mitterwurzer wehrte ab: „Nein, nein, unmöglich. Das nenne ich praxisfremd. Auf jedem Platz an den Tischen würden unentwegt die Alarmglocken läuten. Vom Dauerlärm in der Klasse würden binnen kurzem alle verrückt werden.“

Dr. Hohenadl gab sich geschlagen, präsentierte aber schon bei ihrer nächsten Zusammenkunft eine weitere Idee. „Ich sehe ein, akustisch lässt sich kaum etwas machen. Das Signal muss über die Fingerspitzen kommen. Jeder Fehler löst einen Stromschlag aus. Keinen besonders starken – man könnte gewiss dosieren, je nach Schwere des Fehlers. Ist vollkommen ungefährlich. Die Kühe fallen ja auch nicht gleich tot um, wenn sie auf der Wiese beim Anstreifen an den Weidezaun einen leichten elektrischen Schlag bekommen.“

Mitterwurzer gab es einen Ruck, und er versuchte zu verbergen, wie beeindruckt er war. „Darüber ließe sich eventuell nachdenken.“

Dr. Hohenadl war überrascht, was er bei seiner nächsten Zusammenkunft mit Mitterwurzer zu hören bekam. Der Lehrer klang euphorisch. „Ich habe unsere Idee einer Weidezaunfirma vorgeschlagen und stellen Sie sich vor: Ich bin nicht abgeblitzt. Weidezäune sind ein vielfach unterschätztes Phänomen. Darüber werde ich in meinem Schulunterricht eine Menge zu sagen haben. Das Weidezaun-Prinzip muss natürlich auf unsere Zwecke hin adaptiert werden. Einen Weidezaun im engeren Sinn brauchen wir ja nicht. Die Spannung beträgt bei einem Weidezaun mindestens 2500 Volt. So viel haben wir nicht nötig. Die Spannung, das wusste ich nicht, wird täglich mit einem Zaunprüfer kontrolliert. Was mich überrascht hat, ist, dass für Tiere kleiner als Kühe, also Ziegen und Schafe, 4000 Volt benötigt werden.“

„Wir müssen aber doch von Schülern ausgehen.“

„Richtig. Also von Wesen, vergleichbar mit Ziegen oder Schafen.“

Dr. Hohenadl störte es, dass Mitterwurzer von „unserer Idee“ und ständig von „wir“ sprach.

„Unsere Idee hat Potential. Das haben die von der Weidezaun-Firma sofort erkannt. Aber das Prinzip muss für den Gebrauch in der Schule überarbeitet werden. Das leuchtet ein. Dazu wird einiges an Entwicklungsarbeit nötig sein. Kurzum: Sie wollen einen Kostenbeitrag von sechstausend. Das wären dreitausend für jeden.“

Jetzt klingelten bei Dr. Hohenadl die Alarmglocken. Wenn er für seine Idee, die plötzlich zur Hälfte nun auch zu Mitterwurzers Idee geworden war, bezahlen sollte, war für ihn eine rote Linie überschritten.

Genauso sagte er das dem Herrn Lehrer auch. Aber der war davon kein bisschen irritiert. „Nun, dann werde ich eben den Gesamtbetrag übernehmen. Die Aussichten, das Geld und noch viel mehr zurückzubekommen, sind sehr hoch, hat man mir gesagt.“ Dr. Hohenadl, wurde schlagartig klar, dass er jetzt auch die andere Hälfte der Idee leichtfertig seinem forschen Partner überlassen hatte.

Das Kapitel Mitterwurzer war damit für ihn zu Ende. Er hatte mit dem Mann nichts mehr gemein und orientierte sich sehr rasch um. Von nun an wollte er sich auf die Gemeinde Wien konzentrieren, auf das, was die Rathauskorrespondenz täglich, wöchentlich und monatlich an Schriftlichem von sich gab. Ein ununterbrochener Informationsstrom wälzte sich aus dem Rathaus hinaus in Stadt und Land. Dr. Hohenadl nahm einen Rotstift in die Hand und fing an zu lesen. Schon nach einer Woche war der erste Stift verbraucht. Dr. Hohenadl ließ sich Zeit und las weiter. Wochen vergingen. In einer Gratiszeitung stieß er unter dem Titel „Kuriosum“ auf eine Meldung, in der es hieß, ein Mittelschullehrer habe ernsthaft den Vorschlag gemacht, seine Schüler mittels Stromstößen zu züchtigen. Nach heftigen Beschwerden der Eltern sei es zu einer Untersuchung und letztlich zur Suspendierung des Lehrers gekommen. Dr. Hohenadl lächelte ein wenig, weil ihm die dreitausend einfielen, die er zum Glück nicht ausgegeben hatte, nahm seinen Rotstift und strich in dem Wort „Suspendierung“ ein „z“ an, das dort nicht hingehörte.

Dr. Hohenadls Fehlersammlung, die er aus der Rathauskorrespondenz gewann, wuchs und wuchs. Im selben Maß wuchs seine Vorfreude auf den nächsten Schritt. Er verfasste einen ausführlichen Brief an das Rathaus. In aller Bescheidenheit und Sachlichkeit stellte er sich dort als

aufmerksamer, regelmäßiger Leser der Rathauskorrespondenz vor, und er sparte nicht mit Lob.

„Die Informationen sind durch die Bank dazu angetan, meinen Horizont zu erweitern und meine Verbundenheit mit der Stadt zu festigen. Die ideenreichen Initiativen auf so vielen Gebieten erfüllen mich mit Stolz. Erlauben Sie mir als loyalen Bürger, eine kleine Anregung zu geben. Mir ist aufgefallen, dass sich in die verschiedenen Artikel immer wieder kleine Fehler einschleichen. Eine diesbezügliche Übersicht, die vergangenen fünf Wochen betreffend, finden Sie im Anhang. Selbstverständlich sind alle diese Fehler durch den Zeitdruck, unter dem Sie arbeiten, entschuldigt. Dennoch möchte ich anmerken: Ohne diese Beeinträchtigungen würde die Lektüre noch weit größeres Vergnügen bereiten.

Ich erdreiste mich, Ihnen aufgrund meiner intensiven Beschäftigung mit Rechtschreibkunde einen Vorschlag zu unterbreiten. Um es kurz zu sagen: Mir schwebt die Stelle eines Korrekturbeauftragten der Stadt Wien vor, durch dessen Hände alle Texte gehen, bevor sie publiziert werden. Es wäre mir eine Ehre, diese kleine Position unentgeltlich einnehmen zu können und Sie damit entscheidend zu entlasten. – Über die Einladung zu einem Gespräch würde ich mich außerordentlich freuen.“

Die Antwort kam prompt. Der Brief las sich zunächst wie ein Dankschreiben. Im nächsten Moment aber fühlte sich Dr. Hohenadl so, als hätte ihn der elektrische Schlag eines Weidezauns getroffen. Die Zeilen verschwammen vor seinem Blick.

„Wir beeilen uns, ein Missverständnis ihrerseits aufzuklären:

Die ,Fehler‘, die Ihnen aufgefallen sind, werden von unserem Redaktionsteam nach einem ausgeklügelten System bewusst gemacht. Der Zweck besteht darin, die Leserinnen und Leser zu einem anspruchsvollen Gedächtnistraining herauszufordern. Ihr Bedürfnis, Recht zu haben, wird dadurch gestärkt. Bereits viele Seniorenheime in der Stadt haben Zirkel eingerichtet, die sich wöchentlich zur 'Korrektur' der Rathauskorrespondenz treffen. Auf dieses spezielle Sozialprogramm, das dem Gedächtnistraining dient und die geistige Beweglichkeit bis ins höchste Alter fördert, sprechen vor allem pensionierte Beamten, Universitätsprofessoren, Juristen, mitunter auch Politiker, Lehrer und Schriftsteller sehr gut an. Wir laden Sie ein, Mitglied in einem dieser Zirkel zu werden und die Herausforderung annehmen, möglichst alle Fehler in den Veröffentlichungen des Rathauses zu finden. Hier folgt die Liste der Seniorenresidenzen in Wien, wo Sie ohne besondere Formalitäten Ihre Mitgliedschaft anmelden können.“

Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers