Dr. Hohenadl sieht Jefimowitsch in die Augen

SATIRE

01/09/23 Ja, was geschehen war, verwirrte Dr. Hohenadl zutiefst. Am erstaunlichsten fand er die Geschwindigkeit, mit der ein Film in seinem Kopf ablief, als er in der Otto-Bauer-Gasse, auf der Höhe der Marienapotheke, unversehens zwei Russen gegenüberstand. Er sah sich gleichsam dabei zu, worauf er sich gerade gegen seinen Willen wie ferngesteuert einließ, wie er in sein Verderben rannte, ohne sich dagegen zu sträuben.

Von Werner Thuswaldner

Er hatte sie sofort als Russen erkannt, Mann und Frau, denn die beiden hatten ihn mit „dobryi djen“ gegrüßt. Dass die zwei trotz der Julihitze dunkle Stoffmäntel trugen, war zwar sonderbar, passte aber ins Bild. Auf einmal waren auch die zwei Mädchen da, die ihn schon seit ein paar Wochen zu verfolgen schienen. Sie schauten neugierig zu und kicherten.

Noch etwas sagte der russische Mann: „Sabatka“. Auch das konnte Dr. Hohenadl verstehen, weil jeder in Wien über einen kleinen russischen Wortschatz verfügte. „Hund“, hatte der Mann gesagt, aber nicht etwa in einem beleidigenden Sinn. Nicht im Entferntesten hatte Dr. Hohenadl daran gedacht, sich einen Hund anzuschaffen. Sein Abscheu vor einer solchen Zumutung hätte nicht größer sein können: Während er dem Mann zwei Geldscheine überreichte und der einen Hundewelpen aus dem Ausschnitt seines Mantels zog, erlebte er eine Filmvorführung in seinem Kopf – in Farbe! Er sah sich in einem Gespräch mit seiner Cousine Charlotte, die ihm einredete, wie gut „ein treuer Begleiter“ zu ihm passen würde, und hörte sich selbst leidenschaftlich dagegen argumentieren, wie arm das Tier in der Stadtwohnung wäre und wie eingeschränkt sein Leben durch die permanente Anwesenheit des Hundes verlaufen würde. Regelmäßige Spaziergänge bei jedem Wetter, von ohrenbetäubendem Gebell begleitete Kämpfe auf dem Gehsteig mit anderen Hunden, gespannte Leinen, Aufbäumen auf den Hinterbeinen, blutende Bisswunden nicht ausgeschlossen, Ausdehnung des Kampfs vom Gehsteig auf die Straße, Hupkonzert, wütende Autofahrer, aus dem Seitenfenster geifernd mit einer Wienerischen Wortwahl aus der untersten Schublade, Beschimpfungen der gegnerischen Partei, vergebliche Befehle, Ruf nach der Polizei, Rechtsstreitigkeiten womöglich, das ekelhafte Einsammeln und Entsorgen der Hinterlassenschaft des Hundes, Geld für die Hundeversicherung, die Steuer und vor allem Geld für die Hundenahrung.

Und was tat Dr. Hohenadl, während er all diese Bilder sah? Er nahm den Welpen, den ihm der Russe entgegenstreckte, in beide Hände und barg ihn im Ausschnitt seines Jacketts. Die beiden Mädchen sahen aus einiger Entfernung zu und kasperten wie zwei Kleinkinder. Sie waren wahrscheinlich irgendwo in der Nähe zu Hause. Oder gehörten sie zu den Russen? Jedes Mal wenn ihnen Dr. Hohenadl auf dem Gehsteig entgegengekommen war, blieben sie stehen, ließen ihn vorbeigehen, und dann lachten sie aus vollem Hals los. Dr. Hohenadl kannte sich nicht aus. Manches Mal standen sie vor der Haustüre am Loquaiplatz, als wollten sie Dr. Hohenadl auflauern. Warum waren sie nicht in der Schule?

„Jefimowitsch“, sagte der Russe und deutete auf den Welpen. „Jefimowitsch“, wiederholte er so lange, bis Dr. Hohenadl endlich verstand und auch „Jefimowitsch“ sagte. Damit war klar, wie Dr. Hohenadl den Hund zu nennen hatte. Große Augen, vorwurfsvoller Blick, seidiges braunes Fell, Er wollte es vermeiden, dem anklagenden Blick des Tiers zu erliegen, aber als er merkte, wie das Hündchen leise wimmerte und dazu zitterte – vor Todesfurcht? – musste er es anschauen. Es gab nichts Bedürftigeres auf der Welt als diese Handvoll Hund. Schon im nächsten Augenblick fühlte er, wie eine warme Flüssigkeit an seinem Körper hinunterrann.

Es kam ihm vor, als würden sich Abschnitte des Films in seinem Kopf, an dessen rasendem Tempo sich nichts änderte, überlagern. Denn auf einmal wurde ihm klar, dass er höchstwahrscheinlich gerade in einen Spionagefall gefährlichster Art verwickelt wurde. War Wien nicht schon immer ein Brennpunkt der Spionage zwischen Ost und West. Wichtige Filmstoffe bezogen sich auf diese Tatsache. Die Skriptschreiber brauchten neuen Stoff, vor allem jene armen Kerle, die für das Fernsehen arbeiteten und die den Konkurrenzduck der deutschen Kollegen deutlich spürten. Viel mehr als Mädchen- und Rauschgifthandel fiel den Autoren nicht ein. Der Diebstahl aus der kaiserlichen Schatzkammer war längst schon filmisch aufgearbeitet. Das Thema Schlepperunwesen samt getürkten Identitäten und blanken Handfeuerwaffen strapazierten auch die deutschen Kollegen immer wieder. Hundebabys, missbraucht für Tierversuche, versprachen, weil sie bis jetzt eher selten vorkamen, etwas herzugeben.

Die Aufnahmen, die zeigen würden, wie den kleinen Wesen ohne Betäubung elektronische Vorrichtungen eingepflanzt wurden, würden für vieldiskutierte Empörung sorgen. Aber warum war der Geheimdienst – konnte er davon ausgehen, dass das Tier entwurmt war? – ausgerechnet auf ihn gekommen? Ganz bestimmt war dem Welpen ein Sender implantiert. Und er, Dr. Hohenadl, konnte für das Tier haftbar gemacht werden. Zunächst käme er in Untersuchungshaft und dann in die Gerichtsverhandlung. Wer weiß, ob er je unbeschadet herauskäme. Und was war Jefimowitsch überhaupt für ein Hund? Ein bodennahes Tier oder ein Hochbeiner? Reinrassig? Geimpft? Womöglich verseucht mit Insekten und Ungeziefer, Wanzen zum Beispiel oder blutsaugenden asiatischen Monstermücken? Und wie groß würde er sein als ausgewachsenes Vieh? So groß wie ein Kalb? Ist alles schon vorgekommen. Dr. Hohenadl sah in seinem Film, wie rasch das Tier heranwuchs. Schon hatte er nichts Liebliches mehr an sich. Der herzergreifende Blick verwandelte sich in einen Ausdruck gefährlichster Drohung. Wegen des dichten, dunkelbraunen Fells hätte man ihn leicht für einen Bären halten können.

Und was dann folgte, waren Schockbilder. Dr. Hohenadl hatte geglaubt, das Geld für eine solide Hundeschule sparen zu können. Jetzt hatte er die Quittung dafür.

Jefimowitsch duldete nicht mehr, dass Dr. Hohenadl sich im Wohnzimmer aufhielt. Er ließ ein anschwellendes Knurren hören – der Sabber tropfte von den Lefzen auf den teuren Teppichboden – und fing mit Scheinangriffen an, die jedoch in vollen Ernst übergingen. Der Abdruck der Zähne auf Dr. Hohenadls Oberschenkel war ein unübersehbares Warnzeichen. Danach kamen die anderen Räume an die Reihe. Als sich Dr. Hohenadl eines Abends ins Bett legen wollte, fiel ihn Jefimowitsch unvermutet an. Nur durch einen Hechtsprung zur Türe konnte sich Dr. Hohenadl retten. Es blieb ihm nichts Anderes übrig als auszuziehen.
In der Schmalzhofstraße bezog er in einem Altbaukeller eine Einzimmer-Wohnung. Und was nun? Die Feuerwehr verständigen? Oder die Spezialtruppe der Polizei? Einen Gedanken hegte und pflegte er, ohne freilich auch nur einen Zentimeter voranzukommen: Vielleicht ließe sich seine Cousine Charlotte mit ihrem Hang zum Außergewöhnlichen einreden, dass Jefimowitsch sehr gut zu ihr passen würde. Er würde ihr ihn gratis überlassen und den Kaufpreis leichten Herzens für verloren geben. In St. Pölten hätte Jefimowitsch bei weitem mehr Auslauf als in der Wiener Innenstadt. Hätte er Charlotte bekennen müssen, dass womöglich ein Geheimsender im Inneren des Tiers verborgen war? Nein, das ging so nicht. Niemals hätte er es über sich gebracht, seine Cousine in Gefahr zu bringen, weder durch die Spionagenetzwerke, noch durch die unvermutet ausbrechende Aggressivität des Hundes.

Dr. Hohenadl staunte, als er in seinem Kopffilm sah, wie er es wagte, nach einem Tag mit aller Vorsicht in die Wohnung zurückzukehren. Vorsichtig öffnete er einen Türspalt. Es blieb friedlich.

Tatsächlich ließ sich Jefimowitsch aus der Wohnung und die Stiege hinunterbringen. Vor dem Haus nahm er sich alle Zeit der Welt, um sich auf dem Gehsteig zu erleichtern. Dr. Hohenadl kam nicht dazu, den Hundedreck einzusammeln, denn Jefimowitsch war schneller, indem er den Exkrementenhaufen mit etlichen kräftigen Ausschlägen der Hinterbeine in der Luft zerstäubte. Ein weißer PKW in der Nähe sah aus, als wäre ihm ein lustiges Sommersprossen-Design verpasst worden. Die meisten im Freien sitzenden Gäste des Restaurants nebenan deckten ihre Teller so gut es ging mit den Händen ab.

Im Anschluss daran ließ sich der Hund anstandslos eine Stunde lang an der Leine durch die Stadt führen.

Dr. Hohenadl nahm an, dass nun alles wieder im Lot sei. Doch weit gefehlt. Kaum waren sie wieder zu Hause, ließ Jefimowitsch sein Knurren hören, das eine blutige Aktion ankündigte, und Dr. Hohenadl merkte gerade noch rechtzeitig, wie er zum Sprung ansetzte. Es pendelte sich ein, dass Dr. Hohenadl zwei Mal täglich die Wohnung betreten durfte, aber nur, wenn er wenigstens zwei Kilo Lungenbraten dabeihatte. Dann war Jefimowitsch gnadenhalber zu einem einstündigen Spaziergang durch die Stadt bereit. Die Passanten schauten erschrocken, wechselten die Straßenseite oder flüchteten in Hauseingänge. Andere Hunde schlichen mit gesenktem Kopf vorbei. Und Dr. Hohenadl sah sich, wie er aus dem Großhandel Fleisch heranschafft, fünfzig Kilo im Monat zu horrenden Preisen, weil sich Jefimowitsch als Feinspitz erwies und alles stehenließ, was nicht Lungenbraten war. Kalbslungenbraten selbstredend. Der Versuch, ihm einmal billigeren Schweinslungenbraten unterzumogeln, scheiterte kläglich.

Hätte er den Hund nicht schon längst wegen eines Geheimsenders untersuchen sollen, der ihm womöglich eingepflanzt war? Wie denn? Aufschneiden? Oder abtasten mit einem Geigerzähler? Das wäre vielleicht lebensgefährlich gewesen.

Dr. Hohenadl sprach kein Wort, und er bewegte sich nicht. Der Film in seinem Kopf hatte nicht länger als eineinhalb Minuten gedauert. Er staunte darüber, wieviel darin unterzubringen gewesen war. Wahres, Halbwahres und Erfundenes. Der Russe fixierte ihn mit scharfem Blick, wie um zu verhindern, dass Dr. Hohenadl den Handel rückgängig machen könnte. Er wusste weder aus noch ein. Wenn es nur möglich gewesen wäre, den Welpen dem nächstbesten Passanten einfach in die Hand zu drücken! Inzwischen hatte sich eine beträchtliche Zuschauermenge gebildet.

Plötzlich kam mit Tempo ein Polizeiwagen die Otto-Bauer-Gasse herunter, zwei Beamte sprangen heraus und setzten den beiden Russen, die die Gasse hinaufliefen, nach. Dr. Hohenadl sah, wie sie die beiden einholten und mit ihnen zurück zum Auto kamen. Aus den Mänteln holten sie zwölf Hundewelpen, vier hatte die Frau versteckt, acht der Mann. Dr. Hohenadl gab seinen freiwillig her. Daten wurden aufgenommen, auch jene von Dr. Hohenadl. Er wurde gebeten, am nächsten Tag ins Präsidium zu kommen. Das russische Pärchen musste ins Auto einsteigen, und im nächsten Moment bot die Otto-Bauer-Gasse ein Bild wie immer. Die Gaffer – die Wiener sind ein leidenschaftliches Publikum für Straßenszenen – waren weiter gegangen. Von den zwei Mädchen keine Spur.

Dr. Hohenadl war nicht zufrieden und nicht erleichtert, wie er es hätte sein können. Hätte er nicht sein nasses Hemd gespürt, hätte er geglaubt, sich alles bloß eingebildet zu haben. Klar, er kannte den Spruch: „Wenn die Not am größten, ist die Rettung am nächsten“. Aber er fand es seltsam platt, dass sich diese tröstliche Redensart so perfekt bewahrheitet hatte. Sein Misstrauen in die eigene Phantasie nahm schlagartig zu.

Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers