Wir hätten's zu gerne auch miterlebt...

MdM / RUPERTINUM / MARION KALTER

09/03/22 Man könnte einen Neid kriegen, wenn man durch die Ausstellung mit Fotografien von Marion Kalter im Rupertinum geht. Sie hatte, möchte man glauben, wirklich alle vor der Kameralinse, die in der Kunstwelt Rang und Namen haben.

Von Reinhard Kriechbaum

Und sie weiß natürlich auch, dass dieser ihr Lebensweg vor allem für sie als Porträtistin einzigartige Momente bereit gehalten hat. „Der Hauch einer Zeit, von der viele denken, sie hätten's gerne miterlebt“, sagte die 1951 in Salzburg geborene Künstlerin nachdenklich bei der Presseführung durch die neue Ausstellung. Sie sagte es vor einer Fotoserie rund um den Künstler, Musiker und Performer Ted Joans, der zu den zentralen Persönlichkeiten der amerikanischen Beat-Generation um Jack Kerouac und Allen Ginsberg gehörte. In Paris hatte Marion Kalter 1974 diesen Freigeist und mit ihm viele seiner Künstlerfreunde kennen gelernt. Sie hatte den Fotoapparat, so scheint's, immer parat und den Finger zur rechten Zeit am Drücker. Das Wort „Schnappschuss“ verbietet sich vor Kalters im Bildaufbau ausgefeilt wirkenden Porträts und Szenerien aus dem damaligen leben der Bohème in Paris – und es sind doch Momentaufnahmen. Das pralle Leben, nicht die Bildregie gab die Motive vor. Da drehen sich zwei einen Joint, da sitzen sie in Cafés und Wohnzimmern beisammen, Mit Surrealisten und anderen Kreativen der 68er Generation quasi auf Du-und-Du. Das Prickeln, geistig und körperlich, ist greifbar in diesen Aufnahmen.

Der Clou dieser Ausstellung ist natürlich der Raum mit den Porträts von Künstlerinnen und Künstlern. Mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen ist sie Anfang der 1980er Jahre in Salzburg zusammengekommen und hat ihn für ein Porträtfoto wie beiläufig über eine hecke schauen lassen. Damals hat sie auch in der Hofstallgasse vor einer Festspielaufführung eine Genreszene der besonderen Art aufgenommen. Während die Gäste herumstehen oder Richtung Eingang marschieren, sieht man im Zentrum den Pferdemist-Einsammler mit seiner Scheibtruhe.

„Nahe an den Menschen sein“, beschreibt sie ihre Devise, und „die 35mm-Linse hat genau diese Nähe ermöglicht“. So sind aussagekräftige Szenerien entstanden und eine Überfülle an Porträts, manche davon stehen unterdessen in ikonographischem Rang, jene der Komponisten Luigi Nono und John Cage zum Beispiel. Man glaubt nicht, was für ein kreatives Chaos auf dem Schreibtisch von Iannis Xenakis geherrscht hat. Pierre Boulez habe sie „dreißig Jahre lang“ fotografisch begleitet, so lange, „dass er gar nicht mehr gemerkt hat, dass ich da bin“.

Da sind Porträts von Eric Rohmer oder Agnès Varda (der einzigen Frau im Regie-Zirkel der Nouvelle Vague). Soie hat sich vor Marion Kalter selbst inszeniert, im Daunenbett liegend, mit einem Filmprojektor. Andere wirken wie zufällig ertappt und eben deshalb so lebensecht: der Jazzpianist Cecil Taylor latscht in Shorts und Badeschlapfen durch ein Museum und macht gerade Halt vor dem Bild eines Impressionisten. Wir begegnen der Popart-Ikone Andy Warhol, dem Theatermann Robert Wilson, der Choreographin Pina Bausch. Und und und.

Vom „vorbehaltlosen Experimentieren mit den Zufällen des Lebens“ schreiben die Kuratorinnen Barbara Herzog und Kerstin Schremmel. Da ging es Marion Kalter nicht selten ums eigene Leben. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, inszenierte sie sich selbst mit Dachboden-Fundstücken. Und weil die Todesursache Brustkrebs war, spielt die Nacktheit der Fotografin da auch eine Rolle. Die Familiengeschichte im Exil hat sie nachverfolgt, bis zu einer reise mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China – Ihr Onkel Aaron hatte auf diesdem Weg das Exil in Shanghai angestrebt.

Wo verortet man die gebürtige Salzburgerin? Natürlich nicht hier. Zur Fotografie war sie gekommen, weil ihre Mutterin Amerika in einem Farbfoto-Labor gearbeitet hatte. Die USA und Frankreich hinterließen unauslöschliche Spuren in ihrem Leben und ihrem Werk. In frühen jahren hatte sie als Fotojournalistin gearbeitet. Namhafte Kolleginnen und Kollegen lernte sie in den 1970er Jahren bei den legendären Rencontres de la photographie in rles kennen – und ab diesem Zeitpunkt sah sieihr Medium nicht mehr allein als solches der Dokumentation, sondern als bildschöpferisches Ausdrucksmittel der Interpretation, der inszenierung und – ganz wichtig – auch der persönlichen Erinnerung.

Sie bleibt stehen vor einem Bild, das einen gar nicht alten Mann neben einem Leiermann zeigt. „Mein Vater, drei Tage vor seinem Tod, während des Faschings in München“, sagt sie. Manches Motiv geht einem wirklich unter die Haut.

Marion Kalter, Deep Time. Bis 22. Mai im Museum der Moderne/Rupertinum – www.museumdermoderne.at
Bilder: dpk-krie