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Traurig, pervers, poetisch

WINTERFEST / TIGER LILLIES FREAK SHOW

26/11/10 „Laune der Natur, Phänomen; Missbildung, Missgeburt, Monstrum; verrückter Kerl Exzentriker“ - sagt das Englischwörterbuch zu „Freak“. Das alles - und nicht zu vergessen „aus der bürgerlichen Gesellschaft ausbrechen“ - passt nicht schlecht auf Martyn Jaques. Der Frontmann der „Tiger Lillies“ hat für die Show beim Winterfest weitere „Freaks“ um sich versammelt - inklusive der paarhundert Zuschauer im Theaterzelt.

Von Heidemarie Klabacher

altTodtraurig. Die beiden Liliputaner ziehen nicht nur ihre Mini-Zirkuswagen hinter sich her, wie Kinder früherer Zeiten ihre Leiterwägelchen. Sie scheinen die ganze Last zu lebenden Lebens zu schleppen.

Sonst fällt einem zu „Liliputaner“ immer nur Oskar ein. Die Sache mit dem Trommelwirbel unter der Nazi-Tribüne hat genau diesen Witz, der bestenfalls Tränen lachen lässt. So ist es auch, wenn sich die kleinwüchsige Tiger Lillies-Crew auf das Schlagzeug stürzt und mit voller Kraft einen Mords-Radau macht. Nur dass sie den Rhythmus nicht stören, sondern mit ungebärdiger Lust verstärken.

Der elegante kleine Mann mit der großen Geste eines Filmliebhabers der Fünfzigerjahre und die ebenso elegante kleine Frau mit dem wunderschönen langen Blondhaar sind die einzigen quasi „gebürtigen“ Freaks. Aber was ist mit der Schlangenfrau? „Snake-Women“ ist zwar nicht kleinwüchsig, aber ist es „normal“, mit dem Gesicht auf dem Boden zwischen den eigenen Füßen seinen Nächsten zu begegnen?

altDie Frau mit dem längsten Haar der Welt (Es ist  länger als das Haar der Kaiserin Elisabeth, das bei Migräne auch mit Kluppen aufgehängt werden musste, um Gewicht vom gekrönten Haupt zu nehmen) ist ebenfalls von melancholischer Schönheit. „Feel the Wind“ singt Martyn Jaques ihr zu, und kreischt gar nicht dabei. Er scheint zu wissen, dass der Wind das Letzte ist, das diese Frau in ihrem Haar zu spüren bekommen wird: Ist sie doch gefangen und gefesselt von ihrer eigenen Pracht. Wie wir alle, wenn wir etwa auf High-Heels die Eisentreppe im Theaterzelt hinunterstaksen…

altAuch nicht gut geht es dem „Deathless Man“, der vom Motorrad-Crash bis zum Hals aufschlitzen alles anstellen und doch nicht sterben kann. Bei der Nummer kreischt Martyn Jaques ziemlich. Die beiden Zwerge halten - ungerührten Gesichts - kleine Pappmodelle des jeweils beschriebenen Sterbeversuchs in die Höhe (auf einem Sarg sitzend). Das ist ebenfalls zum Weinen komisch, aber dennoch nur die Eins zu Eins-Bebilderung der Tiger Lillies-Nummer. Mehr Gedankenfreiheit gibt das Lied von den Träumern und deren Träumen von Heldentum und Diamanten.

Fast noch trauriger als die Zwerge ist der (Pappmaché-)Riese mit den acht Händen. Der Übermut der Untoten, die zur Nummer „Lobotomie“ ihr Wesen treiben, kommt auch nicht aus purer Lebenslust. Die Siamesischen Zwillinge (keine Angst, die sind nicht echt, sondern nur am Kleid zusammen gewachsen) liefern einen beängstigenden Kampf zwischen der Sehnsucht nach Nähe und dem Verlangen nach Distanz. Ins Artistische übersteigert haben die beiden Künstlerinnen den gleichen Grundgedanken dann in einer atemberaubenden Trapeznummer,  der einzigen richtigen Zirkusnummer. „Tiger Lillies Freakshow“ ist tatsächlich in erster Linie eine Folge schräger Lieder - so abartig gut, dass die Untermalung durch die schrägen Szenen in der Regie von Sebstiano Toma, gar nicht nötig wäre.

Die hochpoetische Trauer die über dieser Show liegt ist freilich ganz fest verankert in der wundersamen Kulisse, für die Ebenfalls Sebstiano Toma zeichnet: Er beschwört mit seiner Wagenstadt der Träume vergangene Zeiten. „This Freakshow ist the Best in Town“ singt  Martyn Jaques. Er hat Recht. Und das Theremin heult Geistertöne.

www.winterfest.at
Bilder: Winterfest / P.S. Georgas (2) / Georgas und Vrettos

 

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