Der deutsche Komponist Christian Jost hat bereits acht abendfüllende Opern komponiert, die eine faszinierende Welt des magischen Realismus erschließen, aber seine Version der Dichterliebe ist ein konzertantes Werk. Es ist eigentlich ein Requiem für seine zu früh verstorbene Frau, die Mezzosopranistin Stella Doufexis (1968 – 2015), welche in der Version ihres Mannes der erste weibliche Hamlet auf der Opernbühne war und ein Jahr vor ihrem Tod den Schumann-Zyklus aufgenommen hat. „Durch die Jahrhunderte hindurch ist der Schmerz ein Motor der Kunst“, schreibt Christian Jost im Programmheft. Der Vers Hör ich das Liedchen klingen, das einst die Liebste sang wird zum Zentrum seiner Neukomposition.
Neukomposition? Jost hat die Lieder und deren Ablauf weitgehend original belassen, aber mit einem golden schillernden Klanggewand für ein virtuoses Nonett (Flöte, Klarinette, Marimba/Vibraphon, Harfe, Klavier/Celesta und Streichquartett) umgeben, oft anders rhythmisiert und mit atmosphärischen Übergängen. Da wird nichts dekonstruiert, sondern liebevoll neu gefasst. Nichts wird verfremdet, sondern der tiefe emotionale Gehalt betont. Alles bleibt tonal zentriert und geht direkt ins Gehör – und in die Seele. „Räume, deren Türen Schumann aufgestoßen hat“, werden mit größter Sensibilität erkundet. Auch wenn man vielen modischen Instrumentierungen und Übermalungen von Liederzyklen der Romantik skeptisch gegenüber steht – hier ist die Sache einmal in tief berührender Weise gelungen.
Kai Röhrig ist das musikalische Kraftzentrum des Abends und bringt mit seinem phänomenal stimmig spielenden, neuen Ensemble für zeitgenössische Musik der Universität Mozarteum die komplexe und dabei dennoch im besten Sinne eingängige, ja unter die Haut gehende Partitur zum Klingen. Alle neun perfekt und beseelt Musizierenden sollte man nennen – aber David Hödlmoser (Marimba und Vibraphon) und Niuniu Miao Liu (Klavier und Celesta) sorgen für besonders schöne, lang nachtönende Momente. Die sechzehn Lieder sind auf sieben Studierende verteilt, die sich stimmlich sehr wacker schlagen und sogar meist textverständlich sind: Julia Maria Eckes, Anastasia Fedorenko, Sveva Pia Laterza, Claire Winkelhöfer. Lucas Pellbäck, Yonah Raupers und Dominik Schumertl. Sie haben ja nicht nur zu singen, sondern auch Rollen in einem sinnvoll-sinnlichen Spiel mit der Liebe und dem Tod darzustellen – was sie alle großartig und oft ergreifend natürlich schaffen.
Bühnenbild und Kostüme (Yvonne Schäfer, Carla Schwering) entsprechen dem Ort der dazu gefundenen Handlung, einer unterirdischen Bahnhaltestelle in einer Stadt. Alles ist grau und neonbeleuchtet, trotzdem zaubert das Licht (Anna Ramsauer) immer wieder reizvolle Stimmungen. Durchfahrende Züge spiegeln sich an der Rückwand, aber kein Zug hält. Auf den Gleisen sitzt sozusagen das Orchester. Regisseurin Florentine Klepper hat mit Feingefühl und grandioser Personengestaltung ein jener Geschichte, die der Zyklus erzählt, nicht bloß adäquates, sondern ins Zeitlose menschlicher Irrungen und Wirrungen hebendes Kammerspiel erdacht und umgesetzt.
Alles ist realistisch, aber alles birgt auch ein Geheimnis in sich – eine Dreiecksgeschichte eines sich liebenden und schlagenden Paars mit einem Cellisten läuft ab, eine mysteriöse Sandlerin mit Einkaufswagen, ein heillos verliebter Managertyp, eine konfuse Bahnbeamtin und eine meist stoische Dame agieren glaubwürdig, entwickeln Gefühle für einander – und bleiben doch alle einsam.
Ja, was läuft ab? Ein famoses Spiel des „Hin und zurück“. Denn das gut einstündige Werk endet mit der Versenkung der Lieder und der Liebe im Rhein, den schon die verwirrte weiblicher Hälfte des Paars aufgesucht hat. Das Mädchen – die Bezeichnung sei in romantischen Kontext gestattet – wird gleichsam beerdigt. Doch dann geht es nach einer Pause mit einer kompletten Wiederholung der Musik, die man sehr gerne noch einmal hört, weiter, wozu die Handlung spiegelverkehrt erzählt wird – ein inszenatorisches Meisterstück! Am Ende ist die Bühne leer und alle Fragen bleiben offen. „Was bleibt, ist etwas Skizzenhaftes, was hätte sein können“, so Florentine Klepper dazu. Es sind Lebens-Skizzen vom Lieben und „Entlieben“, die im Gedächtnis bleiben. Man sollte mit dieser Produktion auf Tourneen gehen, aber sie wird nur viermal und leider in Konkurrenz zur Mozartwoche gezeigt.