Menschen-Pyramide als Geheim-Waffe

WINTERFEST / ERÖFFNUNG

29/11/18 Wir halten den Atem an, wenn Akrobaten haushohe Menschen-Pyramiden bilden. Diese hohe Kunst war einst eine Kriegswaffe! Die Groupe Acrobatique de Tanger, die erste zeitgenössisch Zirkustruppe Marokkos, eröffnet heute Donnerstag (29.11.) das Winterfest mit ihrem Stück Halka. Sanae el Kamouni, die Prinzipalin, erzählt vom Zirkus aus der Wüste.

Akrobatik hat in Marokko eine jahrhundertealte Tradition. Wo hat diese Tradition ihre Wurzeln und wie wird sie heute gelebt?

Die marokkanische Akrobatik ist eine Kunst, die aus dem 15. Jahrhundert stammt. Ursprünglich bezeichnete man die Akrobaten als Kämpfer. Sie gehörten alle zur Bruderschaft von Sidi Ahmed Ou Moussa, einem Sufi-Weisen des 15. Jahrhunderts. Dieser ist noch heute der Schutzpatron der Akrobaten. Damals wurde die Akrobatik während des Krieges eingesetzt, um mit hohen Menschenpyramiden über Mauern zu schauen und den Feind auszuspionieren. Die gleichen Pyramiden wurden genutzt, um Karawanen von Händlern in der Wüste vor Dieben oder Nomaden zu schützen.

Erst später entwickelte sich diese Akrobatik, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, in eine künstlerische Richtung. Die marokkanische Akrobatik ist auch heute noch ein Juwel des marokkanischen Kulturerbes. Besonders im letzten Jahrzehnt wurde sie wiederbelebt. Viele junge Leute haben diese einzigartige Kunst für sich entdeckt und jede Stadt hat sich auf ihre eigene Weise diese Tradition bewahrt: Die AkrobatInnen aus Tanger arbeiten am großen Strand der Stadt, die aus Larache im Wald, die aus Ksar-El-Kebir an den Ufern des Loukos ... Die Tradition setzt sich fort, auch wenn diese Künstlerinnen und Künstler es schwer haben, von ihrer Kunst zu leben. Nur einige wenige finden Arbeit in einem traditionellen Circus.

Was bedeutet das Wort Halka?

Halka umschreibt im Arabischen einen Kreis von Menschen, in dessen Mitte Vorführungen stattfinden. Also genau die Situation des westlichen Zirkusrunds und der Manege mit ihrem Publikum.

Ihr seid die erste zeitgenössische Circuscompagnie Marokkos. Wo liegen die Anfänge eurer

Compagnie?

Am Anfang der Idee, diese Compagnie zu gründen, stand meine Begegnung mit dem französischen Regisseur Aurélien Bory. Ich habe seine Arbeit entdeckt, sofort eine Verbindung zur marokkanischen Akrobatik gespürt und das Potential für ein künstlerisches und menschliches Abenteuer gesehen. Ich kannte die einzigartige marokkanische Akrobatik, hatte aber bis dahin nie an eine zeitgenössische Kreation gedacht. Ich fand es reizvoll, der marokkanischen Akrobatik neues Leben einzuhauchen und den Akrobatinnen und Akrobaten den Status von Künstlern zu verleihen.

Vor 15 Jahren war die Groupe Acrobatique de Tanger die einzige zeitgenössische Circuscompagnie in Marokko. Unsere Compagnie hat diese Bewegung zu einer Zeit ins Leben gerufen, als sich in der marokkanischen Kulturszene viel getan hat. Inzwischen existieren mehrere Compagnien, die sich in der internationalen Kulturlandschaft etablieren wollen.

Musik und Akrobatik sind in Halka eng verwoben. Welche Rolle spielt die Musik?

Musik ist ein wesentlicher Bestandteil der marokkanischen Akrobatik. Die Truppen bestanden einst immer aus Akrobatinnen, Tänzerinnen und Musikerinnen. Auch wenn wir dieser Tradition mittlerweile eine zeitgenössische Dimension gegeben haben, bleibt die Musik wichtig. Sie gibt den Bewegungen Rhythmus und Bedeutung. Die Lieder in Halka stammen aus verschiedenen Repertoires, zum Beispiel Berbermusik, Eigenkompositionen unserer Musiker und Lieder von Larsad, einer Band aus den 60er Jahren. Die Lieder beschäftigen sich alle mit bestimmten Themen der marokkanischen Gesellschaft: mit der Auswanderung nach Europa, mit der Trennung von der Familie oder mit den Zweifeln, die man im Leben hat. (Winterfest/dpk-klaba)

Das Winterfest wird heute Donnerstag (29.11.) mit der Groupe Acrobatique de Tanger und ihrem Stück Halka eröffnet – www.winterfest.at
Bild: Winterfest/Richard Haughton